Elf Männer begrüßen den Tag. Als die Muezzine in den Moscheen und Gebetsräumen in Safis Zentrum am 30. Dezember ab Punkt 8.31 Uhr zum Gebet aufrufen, beginnt die aufgehende Sonne den weißen Dunstschleier freizulegen, der die riesigen Industrieanlagen in den westlichen Stadtteilen umgibt. »In Safi gibt es nichts zu sehen«, lautet ein ungeschriebener Slogan der Stadt, den Marokkaner im Süden und Norden des Landes gegenüber Touristinnen ebenso automatisiert von sich geben wie Safis etwa 350.000 Einwohner selbst.
150 Kilometer nordwestlich von Marrakesch und 200 Kilometer unterhalb Casablancas an der Atlantikküste gelegen, verweist Safi seine wenigen Besucherinnen auf das strikte Fotografierverbot im Hafenbereich und die auf einem der etlichen Verkehrskreisel installierte »größte Tajine der Welt«, ein aus Lehm gebranntes Schmorgefäß, dessen Durchmesser mehrere Meter beträgt und das der Legende nach einmal erfolgreich benutzt worden ist.
Safis Attraktivität für potenzielle Touristen denkbar niedrig zu halten mag einer Methode folgen. Täglich erreichen die Stadt etliche Güterzüge aus der östlich gelegenen Region um Youssoufia, beladen mit cadmium- und fluorlastiger Phosphat-Erde. In den Fabriken des staatlich kontrollierten Unternehmens OCP wird diese in Verbrennungsprozessen zu Dünger und Rohphosphat verarbeitet, was giftigen Qualm erzeugt, der aus den Schornsteinen in die Umgebung gelangt. Arbeiterinnen und Anwohner werden von Atemwegs-, Haut-, Herz- und Krebserkrankungen heimgesucht. Zur finanziellen Abhängigkeit ganzer Familien von der Phosphatindustrie gibt es aber keine Gegenentwürfe.
Für die Jüngeren führt der Weg hinaus über die Matura und ein Studium. Oder über den Sport. Wandbemalungen in der Medina porträtieren die beiden jüngsten Helden der Stadt: Abderrazak Hamdallah und Yahia Attiyat Allah, zwei Spieler desjenigen marokkanischen Fußballnationalteams, das im Dezember bei der Weltmeisterschaft in Katar den Einzug ins Halbfinale schaffte. Die beiden sind nicht nur in Safi geboren, sondern haben auch ihre Karrieren hier begonnen: beim Erstligisten Olympique Club de Safi, kurz OCS. Seit einigen Monaten spricht sich in der Stadt das Kuriosum herum, dass der Verein nun Mädchen aufnehmen soll.
Gegenüber dem riesigen Supermarkt Marjane, der Sackerln mit der Aufschrift »22 Bravo les champions« austeilt, markiert der rote Bus der Kampfmannschaft das Trainingszentrum von OCS. Am Eingang zum Gebäude, in dem sich neben der Administration Besprechungsräume, Kabinentrakte mit Duschen und ein Fitnessraum befinden, hat sich an diesem Freitag eine etwa 40-köpfige Gruppe aufgeregt lachender zwölf- bis 19-jähriger Mädchen und junger Frauen versammelt. »Wir beginnen um 14.30 Uhr mit dem Training«, sagt Hanane Jerid, Cheftrainerin des Ü18-Teams, die mit Schirmmütze und in Turnschuhen erschienen ist. »Am Sonntag, wenn niemand in der Schule sein muss, kommen noch viel mehr.«
Grüße in die Moderne
Auf einer Anrichte in einem der Büros im Innenbereich findet sich inmitten einer Sammlung von Pokalen, die die männlichen Teams des Klubs gewonnen haben, ein Frauenförderer. Mohammed VI., landläufig M6 genannt, regierender König von Marokko seit 1999, tritt in einer goldumrahmten Collage zweifach in Erscheinung: in schwarzem Anzug und Krawatte vor den Umrissen Afrikas an einem Rednerpult und, in traditionellem Gewand aus Djellaba und Fes, mit Thronfolger Kronprinz Moulay Hassan im Arm vor einer rot-grün eingefärbten Landkarte, die die von der Frente Polisario kontrollierte »freie Zone« in der Westsahara einschließt. Der König, den es allgemeinhin zu lieben gilt, bemüht sich seit seinem Amtsantritt um die sprichwörtliche Verbindung von Tradition und Moderne, indem er etwa dezidiert Frauenrechtsbewegungen unterstützte und seine eigene Frau, eine Bürgerliche, entgegen der Tradition nicht ins Innere seiner vier Paläste verbannte.
»Seit meinen Anfängen im Fußball hat sich zum Glück einiges verändert«, sagt Jerid, die im Büro Platz genommen hat. Die heute 36-Jährige hat in den Straßen und Gassen Safis zu spielen begonnen – vor allem mit Jungen. »Ich habe immer wieder vergessen, dass ich ein Mädchen bin, bis andere mich daran erinnert und mich ausgeschlossen haben.« Im Jahr 2000 gründete sie mit weiteren Fußballspielerinnen und unterstützenden Eltern den Club Espoir Safi – der die »Hoffnung« schon im Namen trägt. »Wir haben für das Recht, Fußball spielen zu dürfen, kämpfen müssen.«
Aufgrund der marokkanisch-arabischen Mentalität, vermutet Jerid, durchaus aber im Sinne weltweiter gesellschaftlicher Ansprüche zur Disziplinierung weiblicher Körper hätten etwa kurze Sportdressen an Mädchen für Leute, die eigentlich nichts mit Fußball am Hut haben, ein Problem dargestellt. »Wenn ich mit meiner Mutter ins Hammam gegangen bin, konnte ich meine Verletzungen nicht vor ihr verstecken«, sagt Jerid. »Dann war sie außer sich. ›Bist du ein Junge oder ein Mädchen?‹, hat sie mich immer wieder gefragt.«
Frauen, die Fußball spielen
Nach Jahren selbstorganisierter Turniere, in denen der Club Espoir gegen Frauenteams aus der Region antrat, installierte der marokkanische Fußballverband FRMF 2008 ein Ligensystem für Spielerinnen. Unter der Präsidentschaft eines zweiten anerkannten Frauenförderers, Fouzi Lekjaa, fand der Women’s Africa Cup of Nations (WAFCON) im vergangenen Jahr erstmals in Marokko statt. Mit dem Einzug ins Finale, das vor 50.000 Stadionbesuchern in der Hauptstadt Rabat ausgetragen wurde, qualifizierte sich Marokko als erstes nordafrikanisches Team für eine Weltmeisterschaft. Kurz darauf gewann der Hauptstadtklub AS FAR das Finale der im Vorjahr erstmals ausgetragenen Women’s Champions League der Confederation of African Football. »Ich glaube, 2022 haben zum ersten Mal überregionale marokkanische Medien über Fußball spielende Frauen berichtet«, sagt Jerid.
Abseits der Großstädte Rabat, Casablanca und Marrakesch, in denen Leistungszentren für Fußballerinnen entstanden sind, habe der sogenannte Frauenfußball, das betonen die Beteiligten in Safi, bisweilen Projektcharakter. »Wer einen ganz neuen Bereich aufbauen will, muss sich um die Basis kümmern«, sagt Azzedine Belkebir, Technischer Direktor von OCS. Für Klubs, die ein Männerteam in der ersten Liga Botola Pro 1 stellen, gehören seit dieser Saison eine Futsal-Abteilung und ein Frauenteam zu den A-Kriterien, also den obligatorischen Lizenzbedingungen. Um die Professionalisierung der Frauenteams voranzutreiben, zahlt der Verband Spielerinnen und Trainer in der ersten und zweiten Liga selbst.
Für Safis U17- und das Ü18-Team ist die regionale Meisterschaft, die in dieser Saison aufgrund von internen Streitigkeiten nicht ausgetragen worden ist, das angestrebte Ziel. Die Zukunft, auch darüber herrscht Einigkeit im Betreuerstab, sind einige besonders talentierte zwölf- und 13-jährige Spielerinnen in der U15, die inzwischen auf dem Trainingsplatz in überdimensionierten weißen Trikots zu tricksen begonnen haben.
Fitnesstrainer Rochdi Fetah hat am rechten Rand des Platzes aus Hütchen, Leitern und Bänken einen Parcours aufgebaut, vor dem sich die U17 in Trainingsanzügen der Vereinsfarben Rot und Schwarz und mit zu Zöpfen gebundenen langen Haaren aufstellt. Monsieur Gainage nennen ihn die Mädchen, weil er dafür berüchtigt ist, für den Muskelaufbau besonders auf den Unterarmstütz zu setzen.
Fetah hat mit dem U20-Nationalteam der Frauen und in einem Leistungszentrum in Rabat gearbeitet, bevor er seinen jetzigen Brotjob als Sportlehrer an einer Schule in Safi antrat. »Mädchen lernen viel schneller als Jungen. Sie sind auch meistens disziplinierter, motivierter, weil sie die Chance zu schätzen wissen, die sie bekommen«, sagt er. »Wir haben das beste Team im besten Klub!«, rufen einige von ihnen in einwandfreiem Englisch. Zwei küssen das OCS-Logo auf ihrer Jacke.
Alibi-Engagement für Förderungen
Dass manche der Spielerinnen aus Vereinen, die schon länger auf Frauen und Mädchen setzen, ausgerechnet nach Safi gewechselt sind, wundert Hanane Jerid wenig. »Ich werde ehrlich sein«, sagt sie, während sie die von Belkebir geleitete, taktiklastige Trainingseinheit der Ü18 beobachtet. »Ein großer Teil jener Vereine, die Spielerinnen aufnehmen, nehmen diese nicht ernst.« Wer nämlich neben dem Erwachsenen- zwei Nachwuchsteams einrichtet, erhält unter wenigen weiteren Voraussetzungen pro Jahr vom Verband eine Förderung in Höhe von etwa zehn Millionen Dirham, umgerechnet 90.000 Euro. Training werde in einigen Klubs bloß einmal in der Woche angeboten, manchmal träfen sich die Teams nur am Spieltag, sagt Jerid. Ein universelles Phänomen im Sport: Die für Arbeit mit Frauen und Mädchen empfangenen Förderungen kommen nicht diesen zugute, sondern fließen in andere Bereiche; die wenigen Kontrollen werden rechtzeitig angekündigt oder lassen sich ganz umgehen. »Ich bin hier eingestiegen«, sagt Jerid, »weil wir es anders machen.«
Neun Meter vor einem Tor hat Torfrauentrainer Ayoub Biaz eine Mauer aus Freistoßdummys aufgebaut und lässt, abwechselnd Anweisungen gebend und schießend, fünf Mädchen immer wieder antreten, bis sie einen Ball zu seiner Zufriedenheit gesichert haben. Die 16-jährige Hiba Bessbassi, die Hijab trägt, rappelt sich zum fünften Mal auf und stöhnt. »Ich will mich ständig weiterentwickeln«, wird sie später im Besprechungsraum sagen. Zumal Bessbassi gegen jene antritt, die sie zu verunsichern versuchen.
In ihrem Freundeskreis und ihrer Klasse seien es die Mädchen, die immer wieder ihre Fähigkeiten anzweifelten. »Ich weiß aber, dass ich es kann, und höre nicht auf andere.« Jerid, die die Antwort ihrer Spielerin aus dem Arabischen übersetzt hat, formuliert einen ganzheitlichen Ansatz: »Es geht hier nicht nur um Fußball. Wir bringen den Mädchen vieles bei: Verletzungen hinzunehmen, zu reagieren, wieder aufzustehen. Ich will, dass sie mehr Möglichkeiten haben, als ich sie hatte.«
Aggressive Jungen und zutrauliche Mädchen
Gefragt nach ihren Vorbildern, nennen die Spielerinnen Achrim Hakimi und Bono, zwei Stars des marokkanischen Nationalteams, die bei Vereinen in Europa spielen, aber auch WAFCON-Torschützenkönigin Ghizlane Chebbak von AS FAR. Als Tarek Mostafa, Cheftrainer der Kampfmannschaft von OCS, die am Tag zuvor auf den fünften Tabellenplatz vorgerückt ist, im Trainingszentrum eintrifft, will sich die Hälfte der Spielerinnen mit ihm fotografieren lassen.
Nein, sagt Mostafa hinterher, Frauen würde er nicht trainieren. So habe er die Position des Cheftrainers des ägyptischen Nationalteams, die ihm angeboten worden sei, abgelehnt. Seine aggressive Art zu trainieren, seine Tendenz zu fluchen seien nur für Jungen und Männer geeignet, erklärt Mostafa. Er sei nicht dafür geschaffen, Spielerinnen als Familie zu verstehen, was diese erwarteten, zumal er fürchte, dass aus platonischen Beziehungen »mehr« werde. Nur zehn Minuten zuvor hat sein Co-Trainer Somech Esmail Hesain auf die Frage, ob er zu einem Frauenteam wechseln würde, geantwortet: »Sicher, wenn die Frauen schön sind.«
Ein Exempel dafür zu schaffen, wie Frauen, Mädchen und Männer professionell miteinander arbeiten können, »die Mentalität zu verändern«, sei ihnen ein Anliegen, sagt Fitnesstrainer Fetah. Hanane Jerid nickt. Nach dem Fremdsprachenstudium hat sie ihre Trainerinnenlizenz erworben, »weil wir Frauen dem Fußball viel zu geben haben«, wie sie sagt. Weiterhin kämpft Jerid an verschiedenen Fronten. Ihre eigene Mutter habe zwar nach 15 Jahren der Verbote den Widerstand gegen die Leidenschaft ihrer Tochter »aus Ermüdung« aufgegeben. Einige Eltern müsse Jerid aber noch davon überzeugen, dass der Fußball keine schlechteren Frauen aus ihren Töchtern mache. Dass es ihr Recht sei, sich auszudrücken.
Und während sich die Sonne von Safis rauchenden Schornsteinen und dampfenden Müllbergen abwendet, sagt die 14-jährige Salsabil Sahib für sich und ihre Zwillingsschwester Tasnime einen Satz, der alle Mühen wert zu sein scheint: »Im Fußball haben wir uns selbst gefunden.«
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