Anziehen und Geschlecht

von Andrea Grill

491 wörter
~2 minuten
Anziehen und Geschlecht
Barbara Vinken
Ver-kleiden
Was wir tun, wenn wir uns anziehen
Residenz-Verlag, 2022, 96 Seiten
EUR 19,00 (AT), EUR 19,00 (DE), CHF 25,90 (CH)

In den 1920er-Jahren war Rosa noch die Farbe für kleine Jungen. »Dem kleinen Mädchen dagegen, zart und anmutig, war die Himmelsfarbe, das kleine Blau, auf den Leib geschrieben. Es war auch die Farbe der Heiligen Jungfrau.« Gerade an den Farben lässt sich die Veränderlichkeit dessen, was als typisch weiblich oder typisch männlich gilt, plakativ darstellen: »Man denke an den von Kopf bis Fuß rotgewandeten Heiligen Eustachius in der Alten Pinakothek in München. Auch Martin Luther kam hin und wieder in Rot. Im elisabethanischen England, dann im Barock und Rokoko, war Pink der letzte Schrei für die Herren.«

Gekonnt und sachkundig führt Barbara Vinken vor Augen, wie sich Gender-Normen im Lauf der Zeit immer wieder verschieben oder sogar umkehren. Sie hinterfragt den Dogmatismus zeitgenössischer Bewegungen zur Überwindung der binären Geschlechtergrenzen und überrascht von der ersten Seite an mit scharfsichtigen Analysen dessen, was »Gender« in menschlichen Gesellschaften bedeuten kann. Erfrischend provokativ führt sie vor, wie das Weibliche und das Männliche seit jeher konstruiert wurden – nicht nur in der Mode.

Gerade dort, an der sogenannten Oberfläche, der Art, wie wir unsere Körper bedecken, könnten die gegenwärtig hochemotionalen Grabenkämpfe auf dem Feld der Genderidentität entschärft werden: »Die Travestie, das Ver-kleiden bringt nämlich die lustvolle Erkenntnis, dass Gender die Referenz auf das biologische Geschlecht nur vorgibt. Trompe-l’oeil.« Vinkens Buch ist nicht zuletzt ein Plädoyer für mehr Humor, Ironie und Mut zum Spiel in Gender-Agenden; wobei ihr der hohe Leidensdruck von Menschen, die sich im falschen Geschlecht eingesperrt fühlen, bewusst ist.

Die »leitende Opposition« männlich/weiblich sowie die Mode der Moderne beginnen für Vinken in der Französischen Revolution, ab da wurde das Geschlecht »zum natürlichsten aller Unterschiede, das ungleiche Gesetze und ungleiche Behandlungen legitimierte«. Vor der Revolution war der Stand – adelig oder nicht – die entscheidende Kategorie, die durch die Kleidung (per Gesetz verordnet) sichtbar gemacht werden musste. Das meinte Friedrich Schiller mit »Was die Mode streng geteilt«. Als alle Menschen Brüder wurden, bekamen die Frauen ihr Geschlecht, erst dann zogen sie sich speziell mit Bezug darauf anders an: »Die Frau wird ›das Geschlecht‹, Männer werden Menschen.« Vinken legt damit den Finger genau auf die Stelle, die wehtut wie eh und je: Männlich heißt unmarkiert, neutral. Weiblich heißt markiert. Dass dies auch die Grammatiken vieler Sprachen betrifft, entgeht der Literaturwissenschafterin und Philologin nicht. Geistreich durchdenkt sie, wie sich das Muster beim Bürgertum zuspitzt: Männermode konstituiert sich als Antimode und im Gegensatz zu dem, was weibliche Mode in der Moderne ausmachen wird. Mann zeigt, er hat Wichtigeres im Kopf als Gedanken an Kleider. Der Anzug wird zur Ikone dessen, was die Norm ist. »Um Mensch zu werden, castet der Mann die Frau, castet aber auch die weibliche, durch Gender-Stereotype entfremdete Frau sich selbst als ›Andere‹.« Fazit: Was wir anziehen, verändert durchaus die Welt.

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