Vor etwa zwei Monaten wurde ich eingeladen, bei der Theateradaption des Romans Die Eingeborenen von Maria Blut als wissenschaftliche Beraterin zu fungieren (das sehenswerte Stück kann man noch zumindest bis April im Wiener Akademietheater sehen). Für mich war das eine Gelegenheit, diesen 1935 im Exil verfassten Roman von Maria Lazar (1895–1948) eingehender zu lesen. Lazar, jüdischer Herkunft, deren Familie aber schon Ende des 19. Jahrhunderts zum Katholizismus konvertiert war, ging als Sozialdemokratin im Juni 1933 ins dänische Exil, bewegte sich dort im Umfeld Bertolt Brechts und Helene Weigels. Der Text erschien zunächst 1937 im Teilabdruck in der maßgeblich von Brecht gestalteten Exilzeitschrift Das Wort.
In dem figurenreichen Roman wird ein Gesellschafts- und Stimmungspanorama Österreichs in den verhängnisvollen frühen 1930ern gezeichnet. Prägnant vermittelt er auch heute noch, was Jahrzehnte des Umgangs mit Zeitgeschichte im Nachkriegsösterreich nicht wahrhaben wollten: Die gewaltsame Auflösung des Parlaments im März 1933 war keine »Panne«, die Erste Republik brach nicht einfach zusammen – sie wurde zerstört. Die Wende hin zum autoritären, faschistischen Staat war von langer Hand geplant und stieß in beträchtlichen Bevölkerungsteilen auf große Resonanz.
Die typischen Bedingungen für den Aufstieg autoritär-rechter oder faschistischer Formationen in der Zwischenkriegszeit konnte man auch in Österreich finden: die desolate wirtschaftliche Lage, die Angst vor Deklassierung, die von den revolutionären Umbrüchen 1918 gebliebene Verunsicherung, die Ablehnung der gewachsenen Macht der Arbeiterbewegung. Hinzu kommen die österreichischen Spezifika, die es auch weiterhin gerechtfertigt erscheinen lassen, von »Austrofaschismus« zu sprechen: der massive Einfluss der Kirche, das Vorherrschen eines reaktionär politisierten Glaubens, die fundamentale Kritik an Rationalismus und Aufklärung (wie in der berühmten Trabrennplatzrede von Engelbert Dollfuß im September 1933 zur Schau getragen). All dies markierte die Kontinuität einer Gesellschaftsvorstellung, in der Gehorsam, Glaubenshörigkeit, Autorität und Führerprinzip im Mittelpunkt standen. Hinzu kam, wie Lazar in Die Eingeborenen von Maria Blut eindrücklich berichtet, der allgegenwärtige Antisemitismus des Alltags, ein Antisemitismus, der nicht »von außen kam«, wie ein weiterer hartnäckiger Mythos besagt, sondern tief im Milieu der Christlichsozialen Partei verankert war. In prägnanten Szenen und mit scharfem Humor macht Lazar deutlich, in welchem Maße religiöse Vorstellungen und Wunderglaube von der in der Christlichsozialen Partei organisierten politischen Rechten mit der Idee verbunden werden konnte, das Ende des Parlamentarismus komme einem erlösenden Wunder gleich.
Dieses Ende, die Ereignisse im März 1933, war ein angekündigtes: Im Mai 1932 gelangte Dollfuß an die Regierung, mit starker Unterstützung durch die Heimwehr, die Koalition verfügte aber nur über eine hauchdünne Mehrheit. In Kontinuität zu der Radikalisierung der Christlichsozialen unter Ignaz Seipel und auf einer Linie mit dem faschistischen Korneuburger Eid der Heimwehren aus dem Jahr 1930 kündigte Dollfuß bereits unmittelbar nach seiner Angelobung das Ende des Parlamentarismus an. An seine Stelle solle der »richtig verstandene Autoritätsstaat« treten. Wie dutzende Quellen aus diesen Jahren belegen, war der eigentliche Gegner – »die« Linke, »der« Marxismus – genauso klar wie die Bereitschaft, mit den ebenfalls antimarxistischen Nazis ein Einvernehmen zu finden. »Wenn die NS (Nationalsozialisten, Anm.) bereit sind, zur Stärkung des antimarxistischen Kurses einzutreten«, könne man unter Umständen diskutieren, meinte Dollfuß laut Klubprotokoll der Christlichsozialen Partei im Mai 1933, ganz im Gegensatz zum Mythos, dass das von ihm initiierte Regime von Anfang an ein antinazistisches Abwehrprojekt gewesen sei.
Am 4. März 1933 kommt es – keineswegs zufällig – zu einer Debatte über die Bestrafung von Eisenbahnern, die wenige Tage zuvor streikten. Im Zuge eines Geschäftsordnungsstreits über das Abzählen der abgegebenen Stimmen treten die drei Parlamentspräsidenten nacheinander aus ihrer Rolle. Die Sitzung wird ergebnislos unterbrochen, formal steht das Parlament ohne Vorsitzende da. Am 15. März versuchen die sozialdemokratischen und großdeutschen Abgeordneten, die Sitzung fortzusetzen. Sie werden jedoch von der Polizei an der Ausübung ihrer Funktion gehindert. Nach allen Regeln des politischen Geschäfts steht fest: Es handelte sich um einen kalten Putsch der Regierung gegen die Legislative.
Dass dieser Putsch kein »heißer« wurde, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Sozialdemokratie und die Arbeiterbewegung zu diesem Zeitpunkt zu einer Gegenwehr schon nicht mehr in der Lage waren. Die für die Linke in Österreich stets zentrale Erinnerung an den Februaraufstand 1934 sollte nicht vergessen lassen, dass der Februar 1934 in gewisser Weise als Epilog zum März 1933 fungierte. Die für die österreichische Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit typische Mischung aus Verbalradikalismus und gemäßigtem politischen Vorgehen hatte zusammen mit dem ungelösten Streit zwischen den zwei maßgeblichen Flügeln der Partei die Widerstandskraft der Arbeiterbewegung mürbe gemacht.
Schließlich bleibt die österreichische Erfahrung der Zerstörung der Ersten Republik nicht nur ein warnendes Beispiel dafür, wie weit sich eine bürgerliche, gar »christliche« und »soziale« Großpartei nach rechts radikalisieren kann. Sie zeigt auch, wie schnell sich eine parlamentarische Demokratie institutionell aushebeln lässt – mit maßgeblicher Beteiligung von »Stützen der Gesellschaft«: Teilen des Staatsapparates, sekundierenden Medien, religiösen Institutionen. Und wie geschmeidig sich ein belächelbares irrationales Gedankengut in ein autoritäres politisches Projekt einspannen lässt – man hüte sich vor »Wundern«.
Zuletzt erinnert uns der März 1933 auch daran, dass eine allzu simple Gegenüberstellung von »Demokratie« und »autoritärer Politik« und ein fetischisierter Fokus auf die Institutionen einer Demokratie leicht zu Täuschungen führen können: Im Gegensatz zur verbreiteten liberalen Erzählung war es die Linke als Bewegung, die seit dem 19. Jahrhundert die maßgeblichen demokratischen Fortschritte zäh erkämpfte – nicht ohne oft genug auf die Grenzen der »bürgerlichen Demokratie« zu verweisen. Die antidemokratische Gegenbewegung in der Zwischenkriegszeit konnte erst erfolgreich sein, als die Linke und die mit ihr verbundenen sozialen Bewegungen vielfach in die Defensive geraten waren. Wenn spätestens seit 2016 von einem erneuten Aufstieg autoritärer politischer Kräfte die Rede ist (nicht selten aus dem Schoß etablierter Parteien der »Mitte«), dann gilt auch hier: Es ist nicht institutionelle Immunisierung, sondern die Prägekraft sozialer Bewegungen, die den besten Schutz vor diesen autoritären Tendenzen bieten kann.
»Die Ereignisse vom März 1933 waren keine ›Panne‹, die Erste Republik brach nicht einfach zusammen – sie wurde zerstört.«
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