Das Jahr 1983 war ein internationales Marx-Jahr, das mit Debatten und Kongressen in Ost und West begangen wurde. Der 100. Todestag von Karl Marx im März schlug sich dabei in einer ganz eigenen Gemengelage von Stimmen nieder – zwischen Selbstversicherungen, Krisendiagnosen und entdogmatisierten Aufbrüchen. Eric J. Hobsbawm (1917–2012), einer der prägenden Historiker des 20. Jahrhunderts, verband wie kaum ein anderer alle drei Momente in einer Person. Der bewegliche Marxist, der aber im Gegensatz zu fast allen seiner britischen marxistischen Historikerkollegen die KP nicht verlassen hatte, veröffentlichte wiederholt Texte im Wiener Tagebuch. Anfang 1983 hielt er einen Vortrag für die ITH, die Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung, die jährlich in Linz ausgetragen wurde und als wichtigste, Ost und West verbindende Fachtagung dieser Art galt. In Hobsbawms Vortrag ging es vor allem um den Niederschlag Marx’scher Ideen in der Fachwissenschaft. Zugleich bildete er ein Verständnis des Marxismus ab, das auch heute noch wichtige Anstöße bietet: eine Unterscheidung zwischen Marxismus als Ideologie und Marxismus als wissenschaftlichem Paradigma (eine Unterscheidung, aber keine absolute, das Politische negierende Trennung), Marx’sche Texte als Quelle (nicht unverrückbare Aussagen) sowie der notwendig plurale Charakter des Marxismus. Hobsbawms Sicht wurde 1983 noch von vielen als häretische Provokation gesehen. Weiterhin brisant ist seine Warnung vor einer identitären, auf Gruppenzugehörigkeit fußenden Abschottung.
Eric Hobsbawm
Der Einfluß von Marx auf die Geschichtswissenschaft
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»Die Idee der oben erwähnten Krise [des 17. Jahrhunderts, einer wichtigen, von Hobsbawm in den 1950er-Jahren angestoßenen sozialhistorischen Debatte, Anm.] entstand im Laufe der Bemühungen marxistischer Historiker, die Gedanken von Marx über die Entstehung des Kapitalismus historisch auszuarbeiten und in eine zusammenhängende Geschichte des Kapitalismus einzuordnen, welche im Text der Klassiker eben nicht existiert; also im Lauf von Bemühungen, die in erster Linie nicht darauf abzielen, den Text von Marx gegen Angriffe zu verteidigen bzw. durch neue Auslegungen gegen solche Angriffe haltbar zu machen, sondern im Sinne der Weiterentwicklung seiner Ideen. Das bedeutet durchaus nicht, daß man Marx revidieren will, obwohl kein ernsthafter Marxist zögern soll, historische Aussage von Marx, welche – etwa durch spätere Forschung – unhaltbar geworden sind, nicht zu übernehmen. Es bedeutet einfach, daß der lebendige Marxismus dort anfängt, wo die Marxzitate nicht mehr genügen. Große Denker leben weiter, nicht bloß, weil man ihre Texte liest, zitiert und in jeder Generation neu kommentiert und auslegt, sondern vor allem, weil die Fragen, die sie aufgeworfen haben, noch immer von grundlegender Bedeutung sind und ihre Theorien und Methoden noch immer den Rahmen für weitere Forschung bilden. Der Marxismus bleibt ein Arbeitsprogramm.
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Daß solche Fragen verschiedentlich beantwortet werden können, ist selbstverständlich.
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Es gibt keine ausschließlich proletarische oder bürgerliche oder deutsche oder schwarze oder frauenrechtlerische Wissenschaft, die nur den betreffenden Gruppen zugänglich ist und nur sie überzeugt. Und die Diskussion hat in der Wissenschaft kein Ende. Wo sie am Ende ist, hat die Wissenschaft aufgehört. [...] Eben darum ist der Einfluß von Marx auf die Geschichtswissenschaft möglich, und eben darum kann sich der Marxismus nicht von der nichtmarxistischen Forschung abkapseln. Beide befassen sich mit einer objektiv existierenden Wirklichkeit, wenn diese auch nur durch zeitgenössische Begriffssysteme und Denkmuster – sagen wir durch die Brille der jeweiligen Ideologien – zu sehen ist.«
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