Sehnsucht nach dem Kollektiv

von Norma Schneider

Mit »Die Inkommensurablen« legt Raphaela Edelbauer einen vielschichtigen Roman vor, der von queerem Leben im Wien der 1910er-Jahre, Mathematik, Psychoanalyse sowie Rausch und Manipulation erzählt.

Anfang August 1914 begrüßen jubelnde Menschen auf den Straßen Wiens den Beginn des Krieges. In nationalistischem Taumel fühlen sie sich als Gemeinschaft. Der Einzelne scheint nun in der Masse, im Volk aufzugehen – egal ob Proletarierin oder Studentin, Adliger oder Bauernknecht, denn jetzt zählt nur noch der Krieg, die Nation. Diese Euphorie zu Kriegsbeginn wird häufig als »August­erlebnis« bezeichnet und ist Basis nationalistischer Mythen, in denen weder diejenigen vorkommen, die gegen den Krieg waren, noch diejenigen, die nicht mitgemeint waren, wenn von Volk und Nation die Rede war. Wie viel von der Masseneuphorie real und wie viel Inszenierung war, ist in der Forschung umstritten. Doch das Gefühl vieler, Teil von etwas Größerem, von einem Volk, einer Nation zu sein, ist bekanntermaßen durchaus ein reales und gefährliches Phänomen. Gustave Le Bon beschrieb bereits 1895 in seinem Werk Psychologie der Massen, dass und wie Menschen in einer Masse ihre Fähigkeit zum kritischen Denken einbüßen, leicht beeinflussbar werden und sich zu »primitivem« Verhalten hinreißen lassen können.

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