Sorge Arbeit
von Andrea Heinz
EUR 24,70 (AT), EUR 24,00 (DE), CHF 32,00 (CH)
Die Untersuchung Die Arbeitslosen von Marienthal aus dem Jahr 1932, durchgeführt unter anderem von Marie Jahoda, ist bis heute ein Klassiker der Soziologie und zeigte maßgeblich die psychosozialen Wirkungen von Arbeitslosigkeit und vor allem Langzeitarbeitslosigkeit auf.
Geändert hat sich am Umgang mit Arbeitslosen freilich bis heute wenig. Nicht zuletzt deswegen hat die Forschung von Jahoda, namentlich ihre Dissertation Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen und der Text Arbeitslose bei der Arbeit, Bachmann-Preis-Gewinnerin Birgit Birnbacher zu ihrem dritten Roman inspiriert – so ist es den Hinweisen am Ende von Wovon wir leben zu entnehmen. Darin erzählt sie von Julia, die im Innergebirg aufwächst und vom Dorf in die Stadt flüchtet, wo sie als Krankenschwester vermeintlich ihren Lebenssinn findet. Doch ein wohl der latenten Überarbeitung und Erschöpfung geschuldeter Fehler bei der Medikamentengabe und ihre sich verschlimmernde Asthmaerkrankung katapultieren sie aus diesem nur scheinbar geordneten Leben, das hauptsächlich aus Arbeit und der Affäre mit einem verheirateten Arzt besteht.
Julia sucht Zuflucht bei ihrer Familie, wobei sich rasch herausstellt, dass diese nur noch aus dem wenig empathischen, selbstmitleidigen Vater besteht. Die Mutter hat, nachdem sie sich zeitlebens für Mann und Kinder abgerackert hatte, das Weite gesucht und lebt mit einem neuen Mann in Sizilien. Der Bruder ist in einem Pflegeheim untergebracht, seit er als Kind eine Hirnhautentzündung hatte, die der Vater nicht für wert befand, im Krankenhaus behandeln zu lassen. Klischeehaft überspitzt Birnbacher die angebliche Dichotomie von Stadt und Land, als wären es starr voneinander getrennte Seinssphären, als gäbe es keine Feinheiten oder Ambivalenzen. Bisweilen fast denunziatorisch gerät die Darstellung der stumpfen, saufenden, misogynen und groben Landmänner. Die haben allesamt ihre Arbeit verloren: Die Fabrik, die das halbe Dorf ernährte (buchstäblich, es war eine Süßwarenfabrik), hat zugesperrt.
Das Thema Arbeit zieht sich wie ein allzu grellroter Faden durch den Text: Da ist Oskar, den Julia konsequent den »Städter« nennt und der sich im Dorf von einem Herzinfarkt erholt. Durch einen unwahrscheinlichen Glücksfall bezieht er für ein Jahr eine Art bedingungsloses Grundeinkommen und erprobt nun seine Vorstellung von kollektivem, sinnstiftendem Arbeiten. Julia wiederum, die mit ihm eine Beziehung beginnt, ihn aber zugleich auf Distanz hält, steht vor der Frage, ob die Pflege ihrer Angehörigen ihre Aufgabe sein sollte: Der Vater signalisiert ihr deutlich, dass er das von ihr erwartet – hat er doch sein Leben lang für die Familie geschuftet. Und auch was die traumatisierte Ziege Elise angeht, die durch den Roman geistert, gilt als ausgemacht, dass Julia sich um sie kümmern soll.
Geradezu penetrant springt aus jeder Ecke das Thema Arbeit in all seinen Facetten: Fürsorge, Pflege, Lebenssinn. Ein wichtiges Thema, keine Frage. Leider aber hat man das Gefühl, es legt sich wie eine dicke Schicht Tünche über die Figuren. Zu sehr sind sie als Akteurinnen und Akteure verpflichtet, die Konstruktion aufrechtzuerhalten, als dass man ihnen wirklich nahekommen könnte. Schade um einen sprachlich versierten Roman, den man trotzdem gerne liest.
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