Ein Verlag als Resonanzraum

von Andreas Pavlic

461 wörter
~2 minuten
Ein Verlag als Resonanzraum
Hanna Mittelstädt
Arbeitet nie!
Die Erfindung eines anderen Lebens
Edition Nautilus, 2023, 360 Seiten
EUR 28,80 (AT), EUR 28,00 (DE), CHF 35,60 (CH)

Die Edition Nautilus hat Legendenstatus. Aus den anarchistischen Zirkeln Hamburgs hervorgetreten, versorgte sie die deutschsprachige radikale Linke der 1970er-Jahre zunächst als U-Boot mit aufrüttelnden Texten der Situationisten aus Frankreich. »Wir lebten in einem Umfeld aus Selbstausbeutung, Selbstüberschätzung und Unverdrossenheit. Und: revolutionärem Überschwang!« Später kamen Wiederentdeckungen surrealistischer und dadaistischer Schriften, die Jahrzehnte dauernden Mammutprojekte wie die Werkausgabe des vergessenen Schriftstellers und Revolutionärs Franz Jung sowie die Wiederbelebung der literarisch-politischen Zeitschrift Die Aktion.

Über die Edition Nautilus ließe sich noch viel erzählen, wie viel Kraft, Leidenschaft und Unterstützung es benötigt, um einen Verlag, der sich einem rebellischen und anarchoiden Geist verpflichtet fühlt, im Gewässer des Literatur- und Verlagsbetriebs auf gutem Kurs zu halten. Davon erzählt Hanna Mittelstädt, die neben Lutz Schulenburg und Pierre Gallissaire den Verlag gegründet hat, ausführlich. Auch von den Anfängen, als die ersten Reprints anarchistischer Klassiker hergestellt oder Texte der Situationistischen Internationale übersetzt wurden. Sie erzählt diese Geschichte auch anhand von Briefen, die sich über die Jahre im Verlagsarchiv angesammelt haben und Diskussionen, Stimmungen und Atmosphären wiedergeben. Was sie vor allem erzählt, ist, wie sich junge Menschen aufmachten, ein anderes Leben zu (er-)schaffen. Sie erzählt von den Verbindungen zu den verschiedenen Autorinnen und Autoren, schildert die Bezugnahme auf politische Gruppierungen wie Solidarity in London oder die EZLN in Chiapas, das Aufgreifen und Weitergeben von Ideen.

Die Geschichte des Verlags ist gekennzeichnet von Höhen und Tiefen, einem chronischen Geldmangel, der Ödnis der durchkapitalisierten Verlagswelt, aber auch von einem überraschenden Geldregen dank eines Krimi-Bestsellers im Jahre 2007. Vor allem ist sie aber geprägt von Freundschaften und Beziehungen. Der unerwartete Tod von Lutz Schulenburg im Frühjahr 2013 ließ in Hanna Mittelstädt die Entscheidung reifen, sich vom Verlag zu lösen, ihn zu übergeben und sich neue Wege zu suchen. Ein Teil dieses neuen Weges steckt in diesem Buch. Es sind mutige Erinnerungen, da hier eine Person spürbar wird, die die Chronik verlässt und sich in ihrer Erinnerungs- und Trauerarbeit, auch wenn das Wort nicht im Sinne der Autorin sein mag, zeigt. Sie schildert, wie sie von ihrer Gegenwart in die Vergangenheit steigt, die aktuellen politischen, aber auch persönlichen Ereignisse mitnimmt und diese mit ihrer eigenen sowie einer kollektiven Geschichte verbindet.

Es geht der Autorin nicht nur um das Faktische, sondern auch um das Sinnliche, sie erzählt vom Verlust von Vertrautheit, vom Abschiednehmen und vom Aufbruch. Ein solches Erinnern bedarf eines anderen Schreibens und Erzählens. Das gelingt Hanna Mittelstädt eindrucksvoll: »Vielleicht habe ich meine Lektion zu lernen. Erwachsen zu werden, mich von dem kindlichen Verlangen nach Vertrautheit zu emanzipieren. Vielleicht aber möchte ich auch einfach etwas anderes, den Resonanzraum einer begeisternden Gemeinsamkeit.«

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