Gewerkschaftlicher Underdog

von Benjamin Herr

377 wörter
~2 minuten
Gewerkschaftlicher Underdog
Jule Ehms
Revolutionärer Syndikalismus in der Praxis
Die Betriebsarbeit der Freien Arbeiter-Union Deutschlands von 1918 bis 1933
Westfälisches Dampfboot, 2023, 371 Seiten
EUR 41,20 (AT), EUR 40,00 (DE), CHF 52,50 (CH)

Revolutionärer Syndikalismus in der Praxis ist eine historische Feldstudie, die die syndikalistische Gewerkschaftsarbeit am Beispiel der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) diskutiert. Die FAUD war der gewerkschaftliche Underdog der Weimarer Republik: Gegründet im Dezember 1919, wuchs sie in den ersten Jahren zu einer Massenbewegung mit 150.000 Mitgliedern heran. Ab 1923 ging es bergab, 1933 zählte die Organisation nur noch 4.500 Mitglieder. Jule Ehms lässt sich von diesen Zahlen jedoch nicht beirren: Die syndikalistische Bewegung, zeigt sie, war trotz bescheidener Größe eine ernsthafte politische Alternative in der Weimarer Republik. In ihrer Analyse verknüpft Ehms gekonnt die Ideologie- und Organisationsgeschichte der FAUD mit dem bisher vernachlässigten Blick auf deren konkrete Betriebsarbeit – und gibt damit wertvolle Einblicke in den Zusammenhang zwischen betrieblicher Gewerkschaftsarbeit und den in der Organisation debattierten Strategien.

Dieser auf Verknüpfung zielende Blick wird in den verschiedenen Stationen sinnfällig, die das Buch passiert. Zuerst wird das Verhältnis zwischen Staat, Gewerkschaften und Industrie während der Weimarer Republik herausgearbeitet, mit einem besonderen Fokus auf das entstehende Betriebsrats-, Tarif- und Schlichtungswesen. Daran anschließend wird die Organisationsgeschichte der FAUD beschrieben. Ab dann entfaltet Ehms ihr Quellenstudium in drei Abschnitten, die die gewerkschaftliche Betriebsarbeit der FAUD aufarbeitet: Struktur- und Agitationsarbeit, Arbeitskampf sowie das Verhältnis zum Weimarer Staat.

Für Menschen ohne ein dezidiertes syndikalistisches, anarchistisches oder gewerkschaftshistorisches Interesse ist vor allem der letzte Abschnitt des Buches relevant, der die historische Studie in einen aktuellen Zusammenhang setzt. Dies gilt insbesondere für die gewerkschaftspolitischen Grundfragen, die sich zwischen realpolitischem Pragmatismus und transformativer Radikalität aufspannen. Der Fall der FAUD macht dabei eine hohe taktische Flexibilität erkennbar: Wenn die politischen Umstände es erlaubten, eskalieren, aber wenn die Rahmenbedingungen in eine andere Richtung zeigten, vermitteln, Unruhe vermeiden, mit reformistischen Kräften Kompromisse eingehen. Dabei war die Konfliktführung der FAUD angesichts eines kleinen Funktionärs­apparats nah an der betrieblichen Basis.

Im Zuge der aktuellen Debatte um gewerkschaftliche Erneuerung kann der Text deshalb als Rekonstruktion historischer Momente der kreativen Nutzung politischer Handlungsspielräume gelesen werden. Dadurch wird sowohl die Möglichkeit von Belegschaftshandeln angesichts eines institutionalisierten Klassenkonflikts als auch die Vielfalt gewerkschaftlicher Interessenmobilisierung deutlich. Ehms Studie über die vergangene Gewerkschaftsarbeit der FAUD zeichnet dadurch eine kontinuierliche Linie zu den heute stattfindenden, oftmals nichtnormierten Arbeitskonflikten in der Gig-Economy.

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