Immer noch Lenin

von Alfred J. Noll

Illustration: Dani Maiz

Vor 100 Jahren, am 21. Jänner 1924, starb Wladimir Iljitsch Lenin im Alter von nur 53 Jahren. Wie hätte sich die Sowjetunion entwickelt, hätte ihr erster Regierungschef länger gelebt?


3377 wörter
~14 minuten

In der Mitte des letzten Jahrhunderts zeigte ein Blick aufs allgemeine Kräfteverhältnis zwischen dem, was man in der Linken summarisch als Kapitalismus und Sozialismus bezeichnete, in mehr als einem Moment, dass es nicht so ungünstig stand für Letzteren. Die Erfolge der Sowjetunion und ihrer Verbündeten auf verschiedenen Gebieten in den 1960er- und 1970er-Jahren, die Vitalität revolutionärer und antikolonialistischer Bewegungen vom Fernen Osten über Afrika bis nach Lateinamerika, die Anziehungskraft des Eurokommunismus, die teils leidenschaftliche Aufnahme marxistischer Themen in Teilen der Jugend und einiges mehr konnten der Vorstellung, dass sich die Welt auf dem Weg zum Sozialismus befand, eine gewisse Glaubwürdigkeit verleihen.

In den 1980er-Jahren aber kam es zu einer brutalen Trendwende. Mit großem Ehrgeiz schoben Margaret Thatcher und Ronald Reagan die westliche Welt in eine andere Richtung: In einem gewaltigen Unternehmen, das die neoliberale Globalisierung, die unverhohlene Rückeroberung verlorener politischer und militärischer Positionen, die systematische Liquidierung von Volksbewegungen und die Vernichtung deren Errungenschaften anvisierte, wurde ein ideologischer Krieg gegen die Idee des Kommunismus entfesselt.

Dabei handelte es sich um eine universelle, weltumspannende Gegenoffensive, die umso leichter zu gewinnen war, als sie parallel lief mit dem in vielerlei Hinsicht sich ankündigenden Endstadium der sozialistischen Welt und der internationalen kommunistischen Bewegung. Beide hatten sich als unfähig erwiesen, sich zu erneuern und sich in einer sich rasch wandelnden Welt zu behaupten. Was als »Jugend der Welt« gedacht war, endete in Senilität – zwar strampelte der dynamisch sich gebende Gorbatschow noch kurz und rubrizierte die Verteidigung des Sozialismus unter »Glasnost« und »Perestroika«, alsbald aber musste er die Ereignisse über sich hinwegrollen lassen.

Mit dem endgültigen Rückfall Russlands in den brutalen Kapitalismus, der sich für manche zunächst als das »Ende der Geschichte« darstellte, schien nun zugleich die gesamte Geschichte der UdSSR bzw. des Sozialismus einer gnadenlosen Neuinterpretation ausgesetzt zu sein. Es sei doch der Kommunismus, so verkündete etwa der Pionier in dieser ideologischen Arena, François Furet (1927–1997), mit seinen immensen Versprechen ohnedies nie mehr als eine bloße Illusion gewesen. Und von all dem, was unter diesem Segel schiffte und was unter diesem Etikett tatsächlich passierte, blieb für eine breite Öffentlichkeit am Ende nur das übrig, was der Untertitel des zunächst 1997 erschienenen Schwarzbuch des Kommunismus sagte: »Unterdrückung, Verbrechen und Terror«. Damit trat ein umgekehrter Geschichtsrevisionismus in Kraft, der neue Quellen mobilisierte, um die verstaubten Totalitarismusthesen wiederzubeleben.

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