»Komm am Sonntag zur Versammlung in Kreuzberg, da treffen sich alle demokratischen Kräfte aus der Türkei und Kurdistan«, sagt Ali am Telefon. Der Saal ist voll, neben Jugendlichen mit Piercings und Rojava-T-Shirts sitzen Männer der ersten Gastarbeitergeneration und Frauen mit kurdischen Schals. Die erste Reihe ist den Vertretern der alevitischen und jesidischen Glaubensgemeinschaften vorbehalten und den grauen Eminenzen, jenen also, die schon seit den 1980er-Jahren im politischen Exil in Deutschland leben. Auch zahlreiche Mitglieder kleinerer türkischer und kurdischer Organisationen oder Parteien sind gekommen. Obwohl deutlich mehr Männer anwesend sind, führen die Frauen das Wort. Seit wenigen Tagen steht fest, dass die vor allem in den Kurdengebieten dominante türkische Linkspartei Halkların Demokratik Partisi (HDP) auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten bei den Wahlen am 14. Mai verzichten wird. Auch wenn sie dafür klare Bedingungen formuliert hat, könnte die Partei so zur Königsmacherin für Kemal Kılıçdaroğlu werden, den aussichtsreichsten Oppositionskandidaten und Chef der sozialdemokratischen CHP. Für die gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen hat die HDP gemeinsam mit anderen progressiven Kräften das »Bündnis für Freiheit und Arbeit« geschmiedet, das, da gegen die HDP aktuell ein Verbotsverfahren läuft, unter dem Dach der befreundeten Yeşil Sol Parti (Grüne Linkspartei, YSP) antreten wird. Die Frage nach dem »kleineren Übel«, danach also, ob es klug ist, auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten zu verzichten, kommt auf der Versammlung in Berlin-Kreuzberg gar nicht erst auf.
»Bei allen Differenzen eint uns ein Gedanke: Wir kämpfen dafür, dass die AKP-Regierung und die Erdoğan-Herrschaft endlich ein Ende finden. Und wir kämpfen dafür, dass die, die geflohen sind, wieder zurückgehen, wir unsere Familien sehen und zu den Gräbern der Verstorbenen gehen können«, sagt Ferat Koçak. Der 43-jährige gebürtige Berliner kommt aus einer kurdisch-alevitischen Familie, sitzt seit 2021 für die Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus und ist nicht gerade bekannt dafür, sich mit dem kleineren Übel abzufinden. Letztes Jahr war er eine der lautesten Stimmen innerhalb der Berliner Linkspartei, die sich vehement gegen eine weitere Regierungszusammenarbeit mit SPD und Grünen ausgesprochen haben.
Man kennt sich
Spaziert man mit Koçak über den »Kotti«, den Platz beim Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg, kommt man nicht recht von der Stelle. Viele in den fortschrittlichen türkischen und kurdischen Communitys sehen in ihm »ihren Mann« im Rathaus. Den Habitus eines gewöhnlichen Politikers sucht man bei ihm vergebens, Koçak schüttelt Hände, hört sich die Anliegen der Kiezbewohner an, gibt Ratschläge, beantwortet Fragen und tauscht Telefonnummern aus.
»Diesen Sprung zu schaffen – raus der Diasporapolitik der Eltern und Großeltern, rein zur Politik hier in Deutschland –, das ist ziemlich kompliziert«, erklärt Koçak. Es waren die Bilder brennender Asylwerberheime in den frühen 1990er-Jahren, Bilder aus Mölln, Solingen und Rostock, die sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt haben. Für Koçak wurde damals rasch klar, dass er sich politisch engagieren müsse. »Ich wollte mich einerseits für bessere Lebensbedingungen von Migrantinnen hier in Deutschland einsetzen und auch gegen Diskriminierung und Rassismus kämpfen«, sagt er. Andererseits ging es ihm aber auch immer schon darum, Veränderungen in der Türkei selbst zu erwirken, »indem wir hier auf die Politik Druck machen«. Dieses politische Selbstverständnis macht Ferat Koçak immer wieder zum Ziel von rechten Anfeindungen und Angriffen, 2018 steckten mutmaßlich Neonazis sein Auto, das unmittelbar neben dem Haus seiner Eltern parkte, in Brand.
Die türkische Diaspora in Berlin ist diverser als in anderen deutschen Städten und Regionen, das spiegelt sich auch in den Wahlergebnissen wider. Erreichte die HDP bei den Parlamentswahlen 2015 deutschlandweit 14,8 Prozent, waren es in Berlin über 20. Im Gegensatz zu den Industrieregionen in den westlichen Bundesländern dominierte innerhalb der hiesigen Community nie die erste Gastarbeitergeneration, die vor allem aus Zentralanatolien kam, einer traditionell konservativen Region der Türkei. Nach dem Erdbeben von 1983 in Ostanatolien nahm Berlin zudem viele Menschen aus den kurdisch-alevitischen Provinzen Erzurum und Muş auf. Für Koçak ist das ein Grund für die »gute Durchmischung«, wie er es nennt. »Man wusste, man sitzt hier in Berlin im selben Boot. Die alteingesessenen Leute kannten sich untereinander, und man hat sich nicht gegenseitig angegriffen, auch wenn man politisch nicht einer Meinung war.«
Was nicht bedeutet, dass ein gänzlich konfliktfreier Wahlkampf der türkischen Parteien in Berlin zu erwarten wäre. Zuletzt kam es rund um die Wahlen in den Jahren 2015 und 2018 zu Angriffen auf Infostände und auf das Berliner Büro der HDP. »Die aggressive Politik Erdoğans gegenüber Kurdinnen und progressiven Kräften wirkt sich natürlich auch hier auf die junge Generation aus«, sagt Ferat Koçak.
Leben im politischen Exil
In den letzten Jahren ist die türkisch-kurdische Community in Berlin erneut gewachsen. Aufgrund der massiven Repression gegen Kurdinnen und progressive Aktivisten in der Türkei sind seit 2015 viele Menschen nach Deutschland ins politische Exil geflohen. Auch sie trifft man auf den Veranstaltungen der HDP in Berlin. Neşe Özgen etwa, Professorin für Soziologie, unterzeichnete 2016 gemeinsam mit über tausend anderen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern die Petition »Academics for Peace«, die sich für ein Ende des gewaltsamen Vorgehens gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei und für die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen aussprach. Es folgten Verhaftungen, Entlassungen und Strafverfahren und die Flucht nach Berlin. Der 29-jährige İsa Can Artar lebt seit sechs Jahren in Berlin. Als das Nachrichtenportal, für das er in Istanbul gearbeitet hatte, geschlossen und der Druck auf ihn immer größer wurde, verließ er das Land. Mazlum Karagöz wiederum wurde wegen seiner Aktivitäten für die HDP zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach einjähriger Odyssee erreichte er schließlich Deutschland, wo er vor vier Jahren, wenn auch nur befristet, politisches Asyl erhalten hat. Karagöz ist gerade dabei, sein Deutsch zu verbessern, und will sein Studium der Politikwissenschaft, das er aufgrund seiner Flucht unterbrechen musste, in Berlin wieder aufnehmen. Derzeit ist er aber vor allem im Wahlkampf für die HDP aktiv. Sein Handy klingelt und vibriert im Sekundentakt. Wie man sich im Konsulat für die Wahlen registrieren lassen kann, wollen die Anrufer wissen, und wann der nächste Infostand stattfindet. Ein Genosse aus Düsseldorf braucht die Nummer eines Genossen in Hamburg. Und es gibt ein großes Problem: Die neuen Parteifahnen mit dem Logo der YSP sind immer noch nicht in Berlin eingetroffen – wie aber soll die Eröffnung des Wahlkampfbüros in wenigen Tagen ohne Fahnen über die Bühne gehen?
Auch Leyla Îmret, eine der beiden Vorsitzenden der HDP in Deutschland, ist 2016 aus der Türkei geflüchtet. Als Tochter eines gefallenen PKK-Kämpfers verbrachte sie bereits einen Teil ihrer Kindheit bei Verwandten in Deutschland, kehrte dann jedoch in ihre Heimatstadt Cizre zurück, wo sie 2014 zur Bürgermeisterin gewählt wurde. Nach einem Amtsenthebungsverfahren und mehreren Verhaftungen ist sie 2017 nach Deutschland zurückgekehrt.
Îmret kommt gerade aus Wien und erzählt begeistert von der Newroz-Feier, dem kurdischen Neujahrsfest, im Wiener Rathaus. Derzeit tourt sie durch ganz Deutschland, um den Wahlkampf auf Schiene zu bringen. Auf politisches Geplänkel und die Frage, warum die HDP keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufstellt, lässt auch sie sich erst gar nicht ein: »Als Erstes müssen wir wieder atmen können. Die sogenannten Notstandsgesetze, die Zwangsverwaltung und die Haftbefehle müssen aufgehoben, die politischen Gefangenen freigelassen und die Strafverfahren eingestellt werden.« Bei den Parlamentswahlen 2018 erreichte die HDP in Deutschland 165.000 Stimmen, dieses Ergebnis wollen Îmret und ihre Mitstreiterinnen nun verdoppeln. »Viele von uns leben hier im politischen Exil, und jede Stimme, die wir hier erreichen können, ist eine mehr gegen Erdoğan und eine mehr dafür, dass wir bald wieder nach Hause können«, sagt sie. Die Bedeutung der türkischen Wahlen in Deutschland ergibt sich nicht nur aufgrund der 1,4 Millionen Stimmberechtigten im Land. Schließlich stellen sie umgerechnet nur zwei Prozent aller Wahlberechtigten dar. »Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind historisch sehr eng«, erklärt Leyla Îmret. »Deutschland hat eine Türkei-Politik auf der Agenda und die Türkei auch eine Deutschland-Politik. Und natürlich besteht die Gefahr, dass die Spaltung in der Türkei auch hier stattfindet und dass es vor allem unter Jugendlichen zu Konflikten kommt.« Îmret selbst fungiert quasi als »Botschafterin« der HDP in Deutschland und steht auch mit den außenpolitischen Sprechern der deutschen Parlamentsparteien im Austausch. Außer mit der AfD, versteht sich.
»Enver, der eigentlich anders heißt, aber anonym bleiben will, ist Mitglied der Kommunistischen Partei Kurdistans und kam in den 1970er-Jahren zum Studium nach Berlin. Nach dem Militärputsch im Jahr 1980 war für ihn klar, dass er nicht in sein Heimatland wird zurückkehren können. ›Irgendwann habe ich mich dann auch als Berliner gefühlt‹, sagt der inzwischen pensionierte Sozialarbeiter mit einem Lachen.«
Tanz auf dem Gehsteig
Die zunehmende Repression in der Türkei hat auch auf jene Menschen, die schon lange in Berlin leben, Auswirkungen. Viele trauen sich schon seit Jahren nicht mehr, in die Türkei zu reisen. Enver, der eigentlich anders heißt, aber anonym bleiben will, ist Mitglied der Kommunistischen Partei Kurdistans und kam in den 1970er-Jahren zum Studium nach Berlin. Nach dem Militärputsch im Jahr 1980 war für ihn klar, dass er nicht in sein Heimatland wird zurückkehren können. »Irgendwann habe ich mich dann auch als Berliner gefühlt«, sagt der inzwischen 70-jährige pensionierte Sozialarbeiter mit einem Lachen. In der Frühphase der Erdoğan-Ära in den 2000er-Jahren reiste Enver wieder öfter in die Türkei, um seine Familie zu besuchen. Seit 2015 sieht er davon jedoch wieder ab – wie so viele andere in der Diaspora. »In der Türkei weiß man nie, was passiert, und es gibt auch viele Gerüchte über Listen mit Namen von politischen Gegnern des Regimes«, sagt Enver.
Die Eröffnung des Wahlkampfbüros im Berliner Bezirk Neukölln ist auch ohne die Parteifahnen ein voller Erfolg. Die Reden werden kurzerhand auf die Straße verlegt, das Büro ist zu klein für die rund 150 Anhängerinnen und Anhänger, die sich eingefunden haben. Passanten bleiben stehen und hören zu, zwei Männer auf der gegenüberliegenden Straßenseite schauen grimmig, ein vorbeifahrender Lkw-Fahrer hupt und winkt. Prognosen über den Wahlausgang will hier niemand abgeben. Man hört von der Angst vor Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug, und man hofft, dass Erdoğan abgewählt und die HDP bei den Parlamentswahlen ein gutes Ergebnis erzielen wird. Folgt man den letzten Umfragen, stehen die Chancen dafür ganz gut. Wie aber würde Erdoğan auf eine Abwahl reagieren? Und sind bei einem Wahlsieg von Kemal Kılıçdaroğlu tatsächlich nachhaltige Verbesserungen zu erwarten? Das muss an diesem rauen Frühlingsnachmittag Mitte April offenbleiben. Nach den Reden wird auf dem Gehsteig getanzt: Alte, Junge, Frauen, Männer, Kurden, Türken, Deutsche, Jesiden, Aleviten, die, die schon lange oder immer hier leben, und die, die gerade erst gekommen sind und darauf hoffen, dass sie bald wieder nach Hause können.
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