So viele Texte, die in der frühen Phase der Corona-Pandemie geschrieben wurden, sind schlecht gealtert – und die allermeisten wahrscheinlich zurecht längst vergessen. Prognosen sind unerfüllt geblieben, Hoffnungen sowieso, und viele Analysen haben sich als kurzlebige Momentaufnahmen entpuppt. Der Befund gilt nicht für jenes Interview, das David Mayer Anfang 2021 mit der Medizinhistorikerin Dora Vargha für das TAGEBUCH (siehe Ausgabe 3|2021) geführt hat und das mir dieser Tage durch Zufall wieder in die Hände gefallen ist – »damals« ganz vor dem Eindruck der beginnenden Impfkampagnen und der damit verbundenen Frage nach Verteilungsgerechtigkeit.
Erstens ist das Gespräch, auch, aber nicht nur wegen seiner historischen Dimension, immer noch lesenswert – und zweitens ist es sogar vielleicht gerade jetzt aktuell. In Wien wurden am 1. Juli 2023 sämtliche Maßnahmen gestrichen, Corona-Fälle sind nicht mehr meldepflichtig, wer erkrankt ist, braucht sich nicht mehr in Quarantäne zu begeben, die Gratistests sind passé.
Dora Vargha stellte vor zweieinhalb Jahren die Frage: »Wer hat das Recht, das Ende einer Pandemie auszurufen, und wer wird dabei übergangen? Was passiert nach dem offiziellen Ende der jetzigen Covid-19-Pandemie beispielsweise mit jenen, die am sogenannten Post-Covid-Syndrom, auch als Long Covid bekannt, leiden, über das noch wenig bekannt ist?« In meinem Umfeld sprechen viele in der Vergangenheitsform von Corona. Und einigen wenigen kommt die Zeit seit den ersten bestätigten Fällen vor wie ein einziger langer, apokalpytischer März.
Dass Long Covid in der Tat zahlreiche Menschen betrifft und viele auf lange Zeit erkranken, erwerbsunfähig werden oder sogar an den Folgen sterben, ist mittlerweile bekannt. Dennoch gibt es in der Forschung wie auch in der Versorgung der Betroffenen dermaßen eklatante Lücken, dass einem schwindlig wird. Betroffenenorganisationen wie Long Covid Austria berichten immer wieder davon, wie häufig etwa Fehldiagnosen vorkommen und wie zäh sich die Suche nach medizinischer Hilfe gestaltet. Hinzu kommen verlorene Jobs und drohende Armut, abgebrochene Studien, soziale Isolation, enorme psychische Belastungen. Währenddessen verschwinden manche einfach aus dem Leben. #MillionsMissing ist ein Hashtag, den mit der Multisystemerkrankung ME/CFS Diagnostizierte und ihre Angehörigen verwenden.
Diese tritt nicht nur in Zusammenhang mit Covid auf, aber die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS schreibt: »Mehrere Studien deuten darauf hin, dass nach einem halben Jahr Erkrankungsdauer circa die Hälfte der Long-Covid-Betroffenen die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllt.«
Nach weit über drei Jahren Pandemie gilt es, Solidarität mit den Langzeitbetroffenen zu zeigen. Niemanden zu vergessen. Und die Forderung nach mehr Forschung sowie besserer medizinischer und psychosozialer Versorgung als das zu begreifen, was es ist: ein politisches Anliegen.
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