Ein Panorama
der Umbrüche
von Wolfgang Häusler
Christopher Clarks Monumentalwerk zur 1848er-Revolution bleibt wenig schuldig – allenfalls Hoffnung auf eine Lösung der Vielfachkrise unserer Gegenwart.
Der aus Australien stammende, in Cambridge lehrende Historiker Sir (seit 2015) Christopher Clark verrät den Ursprung des Titels seines neuen Werks Frühling der Revolution nicht. Dies sei nachgetragen, bildet doch die hoffnungsvolle Naturmetapher das Leitmotiv in der kaum überschaubaren Materialfülle zur Geschichte des europaweiten Sturmjahres. Der radikaldemokratische »Zeitschriftsteller« (Eindeutschung des Fremdworts »Journalist«!) Ludwig Börne kündigte 1818, in tiefster Reaktionszeit, sein in Paris herausgegebenes Blatt Die Waage an: »Man sei unbesorgt, froh des kommenden Völkerfrühlings«. 1790 schon hatte der Verleger Johann Heinrich Campe von einem erhofften »Frühling des allgemeinen Völkerwohls« gesprochen (Briefe aus Paris), ihm folgte 1797 Hölderlin mit Hyperion: »O Begeisterung! Du wirst den Frühling der Völker uns wiederbringen!« Heinrich Heines grimmige Satire Atta Troll. Ein Sommernachtstraum (1843, Zweitfassung 1847) distanzierte sich ironisch von christlich-germanischem und liberal-nationalem Pathos: »Das sind ja des Völkerfrühlings kolossale Maienkäfer, / von Berserkerwut ergriffen«. 1844 folgte sein bester Text Deutschland. Ein Wintermärchen.
Clark, Autor des Bestsellers Die Schlafwandler (als solcher am Umschlag werbewirksam genannt), reiselustiger Moderator der populären ZDF-Doku-Serien Deutschland-, Europa- und Welten-Saga, will und wird mit diesem Panorama seine erstaunliche Erfolgsgeschichte fortsetzen. Die große Erzählung blickt sozusagen mit Facettenaugen auf blitzartig wechselnde Schauplätze und gleichzeitig ungleichzeitige Ereignismomente, von Neapel/Sizilien und Spanien/Portugal bis Dänemark und Osteuropa, rückgreifend zur französischen Julirevolution 1830. Neun Kapitel bändigen die immense Stofffülle: »Soziale Fragen«, »Ordnungskonzepte«, »Konfrontation«, »Explosionen«, »Regimewechsel«, »Emanzipation«, »Entropie« (mit Blick auf die um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte Entdeckung der Gesetze der Thermodynamik, gegenwärtig bekanntlich von großer Aktualität), »Gegenrevolution« und schließlich »Nach 1848«.
Der Leser erwarte sich nun nicht ein handbuchartig verwendbares Kompendium, sondern mache sich auf ständige Perspektivenwechsel gefasst. Dies hat freilich den Vorteil, dass man das Buch zur diskursiven Lektüre beliebig aufschlagen kann. Polyphones Leitthema ist die Nationsbildung, politisch und ideologisch. Die Übertragung des französischen Modells 1789ff. auf das Vielvölkerreich der Donaumonarchie bzw. die deutsche Mitte Europas mit ihren dynastischen Mittel- und Kleinstaaten erwies sich als unmöglich und barg das Konfliktpotenzial der dann mit Eisen und Blut gelösten deutschen Frage.
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