Benjamin Opratko | Seit dem Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 und Israels Krieg gegen Gaza sind Nazi-Vergleiche auf allen Seiten allgegenwärtig. Sie forschen seit vielen Jahren zur Geschichte der öffentlichen Holocaust-Erinnerung. Überrascht Sie daran noch etwas?
Jelena Subotić | Nicht wirklich. Der Holocaust wurde schon immer für politische Zwecke, für Verbrechen und Schuldzuweisungen genutzt. Zumindest im Westen gilt er als schlimmstes Menschheitsverbrechen, in den Sozialwissenschaften wird er als Indexfall behandelt, an dem alle anderen Genozide gemessen werden. Da ist es nicht verwunderlich, dass verschiedene Gruppen zu unterschiedlichen Zeiten ihre jeweilige politische Agenda mit Verweis auf den Holocaust verfolgen. Was den gegenwärtigen Fall so schwierig und komplex macht, ist die Tatsache, dass der Staat Israel darin involviert ist – und damit eine direkte historische Verbindung zum Holocaust und seiner Erinnerung. Wer kann in dieser Konstellation für sich beanspruchen, seine Erfahrung mit Bezug auf den Holocaust zu erzählen, und wer nicht? Die Instrumentalisierung des Holocaust sieht man gerade auf beiden Seiten. So wie Kritiker Israels die Kriegsführung in Gaza mit Szenen und Erfahrungen aus dem Holocaust gleichsetzen, so tut das auch Israel mit seiner eigenen Erfahrung des palästinensischen Terrors. Die Hamas mit den Nazis auf eine Stufe zu stellen ist natürlich historisch problematisch und ungenau, dient aber einem klaren politischen Zweck. Es soll damit die Vernichtung der Feinde Israels gerechtfertigt werden – wobei nicht immer klar ist, ob damit die Hamas oder die Palästinenser insgesamt gemeint sind, wie einige Stimmen im israelischen rechten Lager nahelegen. Diese Gleichsetzungen haben immer nur ein Ergebnis: Die Rechtfertigung eines Kampfes mit allen Mitteln, ohne Rücksicht auf Verluste. Leider befinden wir uns derzeit in diesem Teufelskreis, in dem die Vergangenheit dazu verwendet wird, weitere Gewalt in der Gegenwart zu rechtfertigen.
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