Fortschritt als Prozess
von Jens Kastner
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Der Fortschritt ist in Verruf geraten. Optimistisch hatte sich die Linke ihm stets verschrieben, auch wenn es schon früh an ihm Zweifelnde wie Walter Benjamin gab. Der Glaube an ein unaufhörliches Voranschreiten war spätestens mit der Shoah arg getrübt worden, auch der Kolonialismus und nicht zuletzt die Klimakatastrophe haben realpolitische Folgen grausam zutage treten lassen.
Die Philosophin Rahel Jaeggi greift den Begriff des Fortschritts wieder auf und diskutiert ihn gemeinsam mit seiner Kehrseite, der Regression. In ihrer sozialphilosophischen Studie verteidigt sie den Fortschritt nicht als Summe des Erreichten, sondern als Möglichkeit einer anderen, besseren Welt. Fortschritt wird von Jaeggi als Prozessbegriff verstanden, der keine normative Grundlage hat, sondern sich in seinem Vollzug legitimiert. Es geht um Prozesse der Problemlösung. Fortschritt geht Probleme an (auch wenn offen ist, wo es langgehen soll), Regression blockiert sie. Die Offenheit ist wichtig, denn Fortschritt geschieht auch, wo er nicht intendiert oder geplant ist. Jaeggi fragt sich zudem, wie technologisch-wissenschaftlicher, moralischer und sozialer Fortschritt zusammenhängen und was es bedeutet, wenn dies nicht der Fall ist. Auch wird verhandelt, ob die vielen kleinen Fortschritte im Plural die Rede vom Fortschritt im Singular rechtfertigen können.
Die Analyse von Regression erweist sich wiederum als nützlich, um den gegenwärtigen Aufstieg der extremen Rechten zu verstehen. Regression ist nämlich kein einfaches Zurück zu früheren Maßstäben und Lebensweisen, sondern die Abwehr von Veränderungen, die sozialer Wandel mit sich bringt. Regression ist die Verleugnung der Tatsache, dass sich einstmals hegemoniale Familienstrukturen, Staatsbürgerschaftsgesetzgebungen und Geschlechtsidentitäten in den veränderten Arbeits- und Kommunikationsverhältnissen nicht weiter aufrechterhalten lassen.
Regression als »Verfehlen eines Modus der Welt- und Selbsterfahrung« erklärt vielleicht auch die breite Gefolgschaft der äußeren Rechten in so vielen Regionen der Welt: »Deutschland. Aber normal« (AfD), eine Normalität ohne Veggie-Day und Gendersternchen, ohne Klassenkampf, ohne Migration und ohne trans wird da herbeigesehnt, als sei »das Normale« eine von kosmopolitischen Minderheiten attackierte Naturnotwendigkeit und nicht stets dynamisch, umkämpft und von permanent neuen Erfahrungen geprägt.
So weit, so plausibel und erhellend. Eigenartig allerdings, dass das Leid der Vielen und der Schaden, den die Regression anrichtet, in Jaeggis systematischer Studie so selten Thema sind. Wären die leidenden Menschen es nicht auch, die als Kriterium auch für Regression und Fortschritt in Erwägung gezogen werden müssten? Wenig wird auch die damit zusammenhängende, allgemeine Frage diskutiert, inwiefern ein Fortschritt für die einen immer auch Leiden oder Kosten für die anderen erzeugt. Zwar diskutiert Jaeggi am Beispiel der Emanzipation der Frauen, dass bürgerliche Freiheiten und der Abbau von Geschlechterhierarchien keineswegs Hand in Hand erkämpft wurden. Den Vorteil der Männer beim Emanzipationsrückgang der Frauen oder den der Kolonialherren gegenüber den ethnisch anders Klassifizierten benennt sie aber kaum.
Dabei drängt sich die Frage danach auf, inwiefern die Regressiven von ihrer Haltung nicht auch profitieren und mehr davon haben als die Bequemlichkeit der Erfahrungsblockade.
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