Am 9. Juni wird das föderale Parlament Belgiens gewählt. (Foto: Pixabay / Dimitris Vetsikas)

Belgien: Das Land der Zentrifugalkräfte

von Tobias Müller

Rechtsextremer Erdrutschsieg und zugleich ein Aufschwung der marxistischen Linken? Bei der anstehenden belgischen Parlamentswahl offenbaren sich komplexe Verhältnisse.


1177 wörter
~5 minuten

Am 9. Juni findet die EU-Wahl statt. Das Herz der EU schlägt bekanntlich in Brüssel, wo auch das belgische föderale Parlament seinen Sitz hat. Und just am 9. Juni wird in Belgien auch entschieden, wer die 150 Sitze dieses Parlaments künftig einnehmen wird und welche Parteien das Land regieren werden. Doch bis eine neue Regierung gebildet sein wird, dürfte es nach Landessitte eine Weile dauern. Klar aber ist: Die Zeit der bisher regierenden »ganz großen Koalition« unter Premier Alexander De Croo ist abgelaufen. Und damit steht das politisch ungemein komplexe Land vor wesentlichen Entscheidungen.

Dem Charakter der »ganz großen Koalition« kann man sich am besten über ihren Spitznamen »Vivaldi« annähern. Dieser steht in Belgien für die sieben Parteien, die im Herbst 2020, über ein Jahr nach den letzten Parlamentswahlen, eine Regierung bildeten: Sozialdemokraten, Liberale und Grüne jeweils aus dem niederländischsprachigen Norden und dem frankofonen Süden des Landes, dazu die flämischen Christdemokraten. Macht vier sogenannte Parteifamilien – eine Referenz an Vivaldis Vier Jahreszeiten. Was diese Koalition zusammenführte, war schlicht der Mangel an Alternativen in einem Land, in dem nicht nur das Parteienspektrum einer Zentrifuge gleicht.

Zurück bleiben nach einer von Covid- und Energiekrise geprägten Legislaturperiode Resignation und Unmut. Rechte und wirtschaftsliberale Kreise schlagen Alarm wegen des wachsenden Haushaltsdefizits, linke wegen der Zahl an Haushalten, die Probleme haben, ihre Rechnungen zu bezahlen – trotz automatischer Lohnindexierung und relativ niedriger Inflation. Hinzu kommt, dass die Beliebtheitswerte der Koalition im Norden des Landes von Anfang an schlecht waren, denn die beiden stärksten flämischen Parteien, die bürgerlich-rechte Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) und der rechtsextreme Vlaams Belang (VB), waren kein Teil davon. In diesem Frühjahr zeigten sich nicht einmal 30 Prozent der befragten Flamen zufrieden mit der Regierung.

Wer ersetzt Vivaldi?

Die Frage ist nun, was für eine Regierung »Vivaldi« ablösen wird. Komplex ist das schon deshalb, weil nicht nur die belgischen Parteien sich vor etwa einem halben Jahrhundert entlang der Sprachgrenze teilten, sondern die Wahlen auch nach frankofonen und niederländischsprachigen Listen getrennt stattfinden. Eine föderale, also gesamtbelgische Regierung hat idealerweise eine Mehrheit in beiden Sprachgruppen. Andernfalls gerät sie wie »Vivaldi« in der vermeintlich benachteiligten Gruppe schnell unter Legitimationsdruck.

Zusätzliche Brisanz erhält die Situation dadurch, dass sich die politische Kultur und damit auch die Wahlergebnisse beiderseits der Sprachgrenze stark unterscheiden. Während der Süden Belgiens deutlich links geprägt ist und traditionell vom Parti Socialiste (PS) dominiert wird, ist der Mainstream im Norden konservativ bis rechtsextrem und flämisch-nationalistisch. Sowohl VB als auch N-VA wollen eigentlich ein unabhängiges Flandern. Die N-VA hat sich inzwischen auf ein konföderales Modell weitgehend autonomer Bundesstaaten festgelegt. Dennoch ist die Partei als Koalitionspartner im Süden nur begrenzt, die rechtsextreme VB gar nicht vermittelbar.

Ausgerechnet diese Parteien stehen aber in der Region Flandern konstant an der Spitze der Umfragen. Der VB liegt Ende Mai mit knapp 27 Prozent der Stimmen weit vor der N-VA (20,6). Dahinter folgen mit großem Abstand die Vivaldi-Parteien, von denen die Sozialdemokraten noch am besten dastehen, während vor allem den Grünen sowie den Liberalen von Premier De Croo eine Abstrafung droht. Fraglich scheint derzeit allein noch, wie hoch der Sieg des VB ausfällt, der auf europäischer Ebene mit der FPÖ kooperiert und mit dieser teilt, im Völkischen verwurzelt zu sein.

Marxisten bei 20 Prozent

In der Region Wallonien liegen dagegen die PS und das liberale Mouvement Réformateur (MR) Kopf an Kopf. Wer sich dieser Tage in den Metropolen Charleroi oder Liège (Lüttich) umsieht, findet vor allem Plakate der jeweiligen Parteichefs Paul Magnette und George-Louis Bouchez. In Brüssel, der zweisprachigen Hauptstadtregion, dürften die Liberalen dem PS diesmal den Rang ablaufen. Bemerkenswert ist dort vor allem die marxistische PTB-PVDA (Parti du Travail de Belgique – Partij van de Arbeid), die derzeit mit knapp 20 Prozent auf die zweitmeisten Stimmen kommt. Auch in Wallonien ist sie mit 14,5 Prozent im Aufwind, in Flandern könnte sie ihren Anteil mit knapp neun Prozent beinahe verdoppeln.

Mit einem »ambivalenten Gefühl« blickt Peter Mertens, Allgemeiner Sekretär der Partei, den Wahlen entgegen. »Es sieht gut für uns aus, aber wir entkommen natürlich nicht dem globalen Trend des Rechtsrucks. Im Gegenteil, Vlaams Belang wird der große Gewinner. Doch damit ist Belgien in Europa antizyklisch.« Auffällig ist dies umso mehr, weil auf dem ganzen Kontinent linke Parteien in der Krise stecken – abgesehen etwa von den Achtungserfolgen der Kommunisten in Österreich.

Thematisch unterscheidet die PTB-PVDA sich nicht von verwandten Parteien in anderen Ländern: Steuergerechtigkeit – Stichwort Millionärssteuer –, Kaufkraft, Einsatz gegen Korruption und Selbstbedienungsmentalität sowie eine sozial ausgewogene Klimapolitik sind die Schwerpunkte ihres Wahlprogramms. Mit letzterem Punkt setzt man sich erfolgreich von den Grünen ab, die auch in Belgien als elitär wahrgenommen werden.

Die PTB-PVDA dagegen ist demonstrativ basisnah, konstant in Arbeitervierteln präsent und lässt sich auch bei Arbeitskämpfen blicken. Bei einem winterlichen Generalstreik vor einigen Jahren gesellte sich Mertens morgens um sechs Uhr an der Feuertonne zur Belegschaft eines Cargo-Unternehmens am Brüsseler Flughafen. »Authentizität« nennt er das und beschwört: »Wir werden keine Kleinbürger-Partei und keine Lastenrad-Partei.«

Mit diesem Rezept, betont Mertens, gelinge es der Partei, dem Vlaams Belang Wähler abspenstig zu machen. Vor Jahren hätten diese sich enttäuscht der N-VA zugewandt und würden nun zu den Rechtsextremen abwandern, wäre da nicht die Parti du Travail de Belgique – Partij van de Arbeid. Der zweisprachige Name kommt daher, dass sie die einzige verbleibende gesamtbelgische, nicht in zwei Teile zerfallene Partei ist. Nicht ohne Grund: »Die wichtigen Themen betreffen keinen Sprach-, sondern einen Klassenunterschied.«

Bröckelnde Brandmauer

Ungeachtet ihres Aufschwungs ist eine Regierungsbeteiligung der PTB-PVDA aber nicht zu erwarten, denn im Rest des Spektrums gilt sie vielen als Paria. Zumal auf frankofoner Seite trifft dies auch für den Vlaams Belang zu, um den einst alle demokratischen Parteien einen Cordon sanitairezogen, um nicht mit den Rechtsextremisten zusammenzuarbeiten. In Flandern wird diese Abgrenzung aber immer mehr infrage gestellt, vor allem seitens der N-VA.

Die Frage, ob die Brandmauer gegen die Rechtsextremen standhält, überschattet alles andere bei dieser Wahl. Um sie zu retten, könnte eine Regierung nötig sein, die auf einer bislang unmöglichen Achse basiert: einer Verbindung zwischen N-VA und PS. Der Antwerpener Bürgermeister und N-VA-Chef Bart De Wever und PS-Chef Paul Magnette, seines Zeichens auch Bürgermeister von Charleroi, sind jedoch beide nicht allzu erpicht darauf. Zu groß sind die sozial-ökonomischen Unterschiede zwischen beiden Parteien, zu unbeliebt ist die jeweils andere an der eigenen Basis. »Harte Einsparungen? Nicht mit den Sozialisten«, machte Magnette unlängst in einem Interview klar.

Damit droht Belgien, dem Land mit seinen multiplen politischen Realitäten, einmal mehr eine erheblich eingeschränkte Manövrierfähigkeit. Das ist an sich nichts Neues. Es untergräbt aber auf Dauer ein System, dessen Kredit im flämischen Landesteil weitgehend aufgebraucht ist. Und sollte der Vlaams Belang wie erwartet als Sieger aus der Wahl hervorgehen, wird das die Zentrifugalkräfte verstärken. 

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