Bitte nochmal neu

von Jana Volkmann

Editorial TAGEBUCH 3|2025

Es ist 2025, und dennoch tritt von mehreren möglichen Katastrophen die am wenigsten verheerende ein? Was für ein großartiges Konzept, gern mehr davon! So oder so ähnlich dachten wohl viele Menschen in Österreich jenseits der erst frohlockenden und dann hilflos schäumenden FPÖ-Anhängerschaft, als Herbert Kickl mit der Regierungsbildung scheiterte und doch plötzlich wieder die SPÖ mit der ÖVP am Verhandlungstisch saß. Wenig später nahmen dort auch die Neos Platz, und so wird Österreich seit dem 3. März erstmals von einer Dreierkoalition regiert.

Im Deutschen sagt man, man habe die Kurve gekriegt oder sei mit einem Schrecken davongekommen. Im Englischen würde man sagen: We’ve dodged a bullet. Wir sind der bereits abgefeuerten, im Zielflug auf, let’s say, unser Herz oder unser Hirn befindlichen Kugel gerade noch ausgewichen. Dieses dramatischere und existenziellere Idiom scheint auch das angemessenere zu sein. In der Coverstory analysiert TAGEBUCH-Redakteur Benjamin Opratko die an unterschiedlichen neuralgischen Punkten der Zeitgeschichte aufgetauchten Erzählungen vom Ende der Zweiten Republik und prüft sie auf Plausibilität – vor dem Hintergrund rechtsextremer Kräfte, die die Zweite Republik vom Beginn ihres Bestehens bis zum Kanzlerkandidaten Kickl nach ihrer eigenen Ideologie gestalten wollten. Opratko fragt: »So beharrlich, wie die Zweite Republik totgesagt wurde, so beharrlich blieb sie bestehen. Ob sie aber eine von Herbert Kickl geführte Regierung überlebt hätte? Überleben wird?« Die Historikerin Lucile Dreidemy, die seit kurzem die Professur für Zeitgeschichte an der Universität Wien innehat, spricht im Interview mit Samuel Stuhlpfarrer über austrofaschistische Kontinuitäten und darüber, was uns die Erinnerung an 80 Jahre Befreiung heute noch lehren könnte.

Unterdessen ist Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes mitten im Prozess einer grundlegenden Neuordnung – Reinhard Schulze befasst sich damit, wie volatil die Lage nach Jahrzehnten der Diktatur durch Assads Baath-Partei ist und wie das Ende des Krieges zwar greifbar scheint, aber die Gewalt sich noch immer Bahn bricht. Schulze zieht einige der möglichen und am meisten diskutierten Szenarien für Syriens Zukunft ebenso in Betracht wie die historisch gewachsene »brüchige Ordnung«, die nun das fragile Fundament für einen Neubeginn bildet.

Und wo sich über all das austauschen, während Tech-Oligarchen noch die letzte utopische Vorstellung von einem freien Internet mit Schwung und Elan (nach Walter Benjamin, »der destruktive Charakter ist jung und heiter«) zugrunde richten, bis dass ganz Social Media zu einer blinkenden und brüllenden Assemblage aus Werbeeinschaltungen, shitpostenden Bots und Demagogen mit Macker-Megafon gerinnt? In ihrer Kolumne nimmt Raphaela Edelbauer sich der Aufgabe an, nicht nur die Frage zu stellen, was nach X kommt und ob es sich lohnt, die Scherben aufzukehren, sondern sich auch an einer Antwort zu versuchen, die Alternativen zu den gängigen, zu großen Konzernen wie Meta gehörigen Plattformen aufzeigt. Neue, dezentrale Social-Media-Akteure bieten jedenfalls nur eine Möglichkeit, einer veränderten Digitalkultur zu begegnen.

Unmissverständlich Schönes wissen wir aus dem Innern der Redaktion zu berichten. Die Sachbuch-Rezensionen hat in dieser Ausgabe erstmals Simon Nagy koordiniert, was uns alle sehr freut und mich als zweite Betreuerin der Rezensionen ganz besonders. Die Besprechungen von Julia Haugeneder, Andreas Pavlic, Simon Stockinger und Sonja Riegler seien hiermit besonders herzlich zur sofortigen Lektüre empfohlen.

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