Emanzipatorische Materialität

von Andreas Pavlic

430 wörter
~2 minuten
Emanzipatorische Materialität
Milo Probst
Anarchistische Ökologien
Eine Umweltgeschichte der Emanzipation
Matthes & Seitz, 2025, 296 Seiten
EUR 33,50 (AT), EUR 32,00 (DE), CHF 46,90 (CH)

Ausgehend von diesen unscheinbaren Textspalten« – Milo Probst bezieht sich hier auf Kalendereinträge, in denen Naturphänomene mit menschlichen Ereignissen verbunden werden, wie das »Erwachen der Fledermaus« mit der »Revolution in Wien« – »am Ende einer anarchistischen Zeitschrift aus dem Schweizer Jura möchte ich die Ideen des Anarchismus neu befragen. Ich möchte die Weisen erkunden, in denen Nicht- oder Mehr-als-Menschliches in ein radikales Projekt der Befreiung eingebunden war.« Dieses kurios anmutende Vorhaben entpuppt sich als äußerst erhellendes Unterfangen. Vor allem für jene, die sich abseits der breit ausgetrampelten Wege in der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung auf die Suche nach emanzipatorischen Konzepten begeben wollen.

Damals wie heute geht es um die ökologisch-materiellen Bedingungen von Freiheitsversprechen. Der Blick zurück kann helfen, da »wir weder die Ersten noch die Letzten sind, die Emanzipation und Ökologie aufeinander abzustimmen versuchen«, wie es zum Schluss des Buches heißt. Zu diesem Zweck befragt Probst die Texte berühmter und weniger bekannter Anarchist:innen auf ihre ökologische Dimension. Der gewählte Zeitraum erstreckt sich von den 1870er- bis in die 1920er-Jahre. Im Konkreten geht es ihm darum, dem Natur-Mensch-Verhältnis in vier Themenfeldern nachzuspüren.

Das erste handelt von der Bodenfrage und wie sie während der Ersten Internationalen diskutiert wurde. So war bereits damals der Zusammenhang zwischen der Abholzung der Wälder aus privatökonomischen Interessen und deren Folgen, Bodenerosion und Hochwasser, bekannt. Eine daraus resultierende Forderung war die Kollektivierung von Wäldern zum Schutz des Gemeinwohls und der Natur.

Im Kapitel zu Fragen der Technik, der Infrastruktur und der Umgestaltung der Erde verhandelt Probst die fortschrittsoptimistischen Positionen, die einige Anarchist:innen vertraten. In der Agrarfrage wandten sie sich nicht nur gegen die konservativen Kleinbauern ihrer Zeit, sondern sie propagierten eine intensive Bewirtschaftung des Bodens nach allen Regeln modernster chemischer und technischer Erkenntnisse. Einblicke in die Breite der damaligen Diskurse zu geben und diese differenzierend zu analysieren, ist eine Stärke dieses Buches. Die verschiedenen Akteur:innen werden weder idealisiert und bedingungslos in ein aktuelles Denken eingereiht noch verurteilt und ins Abseits geschoben.

Diese Vorgehensweise betrifft auch das dritte Themenfeld: Pädagogik, die im Anarchismus stets eine große Rolle spielt(e). Im vierten Kapitel begibt sich der Autor schließlich nach Argentinien, das Auswanderungsland vieler europä­ischer Anarchist:innen während der vorletzten Jahrhundertwende. Verhandelt wird die territoriale Aneignung, in der sich die Verwirklichung gesellschaftlicher Utopien und koloniale Praktiken überlappen.

Mit Milo Probst gesprochen muss das Denken der Emanzipation im 21. Jahrhundert »über den Kreis der Menschen hinauswachsen«. Dafür Anregungen in der Vergangenheit zu suchen, ist mehr als legitim.

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