Vorweg ein Exkurs zur Wehrlosigkeit von Ikonen: Eine Art amerikanisches Walhalla soll er werden, der »National Garden of American Heroes«, bevölkert von Statuen. Ursprünglich war er eine Idee aus den letzten Tagen der ersten Ära Trump, ein patriotisches Gegenprojekt zum Götzensturm der Black-Lives-Matter-Proteste von 2020. Im Biden’schen Interregnum wurde der Plan eingemottet, jetzt wiederbelebt: 250 Statuen amerikanischer Helden und Heldinnen sollen bis zum 250. Jubiläum der amerikanischen Unabhängigkeit am 4. Juli 2026 an einem noch unbekannten Ort aufgestellt werden. In der ursprünglichen Liste der Auserwählten (niemand weiß so recht, von wem) waren zwischen Giganten wie Milton Friedman, Elvis Presley und Frank Sinatra keine Jüdinnen und Juden, Native Americans, Latinos und Latinas oder US-Bürgerinnen und -Bürger asiatischen Ursprungs zu finden gewesen. Doch während überall sonst der Kampf gegen alle Diversitätsquoten wütet, sind zu dieser stummen Community seither immerhin Namen wie Sitting Bull, Muhammad Ali und Albert Einstein hinzugestoßen. Und mitten unter ihnen, am verblüffendsten von allen: Hannah Arendt. Ausgerechnet die 1941 als Flüchtling vor dem Faschismus eingewanderte politische Theoretikerin deutsch-jüdischer Herkunft, deren Standardwerk Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft (1951) im Jahr 2016 als Überlebensfibel für die erste Ära Trump seinen zweiten Frühling als Bestseller erlebte.
Ihre Ehrung ist insofern wohl bizarr, aber natürlich kein Irrtum. Trump wäre kaum der Erste, der die moralische Autorität einer im Grab rotierenden Hannah Arendt für sich beansprucht. Politikerinnen und Politiker auf der Suche nach Gravitas und Integrität borgen sich unentwegt Sätze aus ihrem Nachlass für ihre Reden, ganz zu schweigen von ihrer posthumen Online-Präsenz.
»Eines der besten und schlimmsten Dinge, die Hannah Arendt im 21. Jahrhundert widerfahren sind, war Twitter«, sagt die britische Menschenrechts- und Arendt-Expertin Lyndsey Stonebridge. »Als Nietzsche-Schülerin war sie gut in Aphorismen und epigrammatischen Sätzen der Sorte: ›Es gibt keine gefährlichen Gedanken, das Denken an sich ist gefährlich‹, oder ›Der ideale Untertan totalitärer Herrschaft ist nicht der überzeugte Nazi oder engagierte Kommunist, sondern Menschen, für die der Unterschied zwischen Fakten und Fiktion nicht länger existiert‹. Diese Sätze erfuhren virale Verbreitung. Viele Leute lesen Hannah Arendt in Form zusammenhangsloser Zitate in den sozialen Medien. Ihr hätte die Ironie daran gefallen, schließlich sagte sie auch, man müsse für sich selbst denken, statt der Masse zu folgen. Andererseits bedeutet es aber auch, dass Arendt in den Diskurs zurückgekehrt ist.«
Letzteres erkennt Stonebridge am anhaltenden Erfolg ihres eigenen, Anfang 2024 erschienenen Buches Wir sind frei, die Welt zu verändern. In einer Mischung aus Biografie, Analyse und aktueller Kontextualisierung schafft sie darin mehreres gleichzeitig: Erstens befreit sie Arendt von ihrem Missbrauch durch Gesinnung simulierende Kalendersprüche, indem sie die konkreten historischen und inhaltlichen Zusammenhänge hinter oft gehörten Phrasen erläutert, etwa jener der »Banalität des Bösen« (aus ihren Berichten über den Eichmann-Prozess in Jerusalem, damals oft – durchaus mutwillig – als Verharmlosung der Nazi-Verbrechen fehlinterpretiert).
Zweitens rehabilitiert Stonebridge Arendt als Philosophin, indem sie nicht nur ihre komplexe Beziehung zu Martin Heidegger erklärt, sondern auch ihr philosophisches Werk Vita Activa oder Vom tätigen Leben (1958) als erfolgreiche, intellektuelle Emanzipation von ihrem ehemaligen Lehrer.
Und drittens schafft es Stonebridge, aus der historischen Distanz notwendige Kritik anzubringen. Insbesondere an ihrem »Little Rock«-Essay aus dem Jahr 1959, in welchem Arendt als weiße Akademikerin arrogante Kritik an den Methoden der schwarzen Bürgerrechtsbewegung übte.
Stonebridge präsentiert keine unantastbare Heldin, ihr Zugang erinnert vielmehr an Arendts eigene Vorbereitungsnotizen zu einem Politikwissenschaftsseminar in Berkeley 1955, zu dem die 1906 in Hannover geborene, in Königsberg/Kaliningrad aufgewachsene Theoretikerin eine Leseliste europäischer Romane mitgebracht hatte: »Die Erfahrungen, von denen Sie lesen werden, ähneln nicht im Entferntesten den Ihren, aber ein wenig den meinen«, plante sie zu den Studierenden zu sagen. »Aber ich möchte nicht Ihr Mitleid erregen, auch wenn die beschriebenen Erfahrungen oft furchtbar sind und großes Mitgefühl verdienen. Ich möchte, dass Sie sie verstehen.«
Arendt, schreibt Stonebridge, habe »Kants ›erweiterte Denkungsart‹ aus Königsberg mit nach Kalifornien« gebracht: »Das Vermögen, die Erfahrungen anderer im eigenen Geist zu repräsentieren, auch wenn man diese Erfahrungen gar nicht selbst gemacht hat.« Eine ziemlich gute Umschreibung dessen, was ihr selbst mit diesem Buch gelungen ist.
Als ich die 60-jährige Autorin an einem sonnigen Frühlingstag in ihrem frisch bezogenen Arbeitszimmer am University College London treffe, hat die Neuigkeit von Arendts Platz in Trumps National Garden noch nicht ihren Weg zu uns gefunden, doch das tägliche Hereinprasseln neuer Unsagbarkeiten aus dem Weißen Haus hat bereits für reichlich Verunsicherung und Empörung gesorgt.
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