Foto: privat

»Der Krieg könnte sich fürs iranische Regime als Segen erweisen«

von Benjamin Opratko

Die Politikwissenschafterin Firoozeh Farvardin im Gespräch über die Angriffe Israels und der USA auf den Iran.


1549 wörter
~7 minuten

Firoozeh Farvardin arbeitet am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und forscht unter anderem zu Gender- und Sozialpolitik im Iran. Im Gespräch mit dem TAGEBUCH beschreibt sie die Stimmung in der iranischen Bevölkerung, analysiert die Rolle der linken und fortschrittlichen Kräfte und erläutert, warum die Bedingungen des Krieges trotz des Waffenstillstands nicht verschwinden werden.

Benjamin Opratko | Wie reagieren progressive Bewegungen und Oppositionelle im Iran auf die israelischen und US-amerikanischen Angriffe?

Firoozeh Farvardin | Zunächst müssen wir klarstellen, dass viele Menschen, die unter dem Regime der Islamischen Republik leiden und von ihm unterdrückt werden, keine Stimme in der offiziellen Politik oder den Medien haben. Es gibt keine »öffentliche Meinung«, wie es im Westen oft als selbstverständlich angenommen wird. Es gibt auch keine Parteien und Organisationen innerhalb des Landes, die frei als Opposition agieren könnten. Die oppositionellen politischen Gruppen sind extrem fragmentiert, es gibt monarchistische, liberale und linke Gruppen sowie Vertreter:innen ethnischer und nationaler Minderheiten, aber sie agieren von außerhalb des Landes. Sie machen Politik aus der Diaspora und versuchen jeweils, sich als legitime Vertreter des iranischen Volkes zu inszenieren. Die Monarchisten sind sicherlich jene, die am lautesten zu vernehmen sind, weil sie finanzielle und politische Unterstützung aus dem Westen erhalten. Sie wollen einen Regimewechsel und sind teilweise auch für den Krieg. Im Iran sind solche Positionen aber in der Minderheit. Es gibt Menschen, die sich auf eine Art nihilistischer Hoffnung zurückziehen: Alles ist besser als dieses Regime, und wenn es für einen Wechsel den Krieg braucht, dann soll es so sein. Aber es ist auch ganz deutlich, dass die Mehrheit der Menschen im Iran den Krieg und die israelischen Angriffe klar ablehnt. Das trifft auch auf die Aktivist:innen aus ökologischen, feministischen und LGTBQ-Bewegungen zu, auf die informelle Gewerkschaftsbewegung und Vertreter:innen ethnischer und religiöser Minderheiten. Die Gruppen, die sich auf die Seite Israels stellen und die Angriffe begrüßen, verlieren gerade an Legitimität.

BOP | Wie navigieren die linken und fortschrittlichen Kräfte im Iran in dieser komplexen Situation? Wie gelingt es ihnen, sich gegen den Krieg zu stellen, ohne die Islamische Republik zu verteidigen?

FF | Es gibt auch unter Linken eine Minderheit, die sich de facto hinter das Regime stellt, die Islamische Republik als Beschützerin des Volkes sieht und einen nationalistischen Antiimperialismus vertritt. Aber der weit größere Teil versucht, eine dritte Position zu finden: Sie sind gegen den Krieg und wollen sich auf keine Seite schlagen. Das trifft sowohl auf die Bewegungen in der Diaspora als auch auf die Gruppen und Aktivist:innen im Land selbst zu. Sie verurteilen die israelische Aggression und wenden sich zugleich gegen die Behauptungen und Aktionen des iranischen Regimes.

BOP | Die israelische Regierung behauptet, dass der Angriff auf den Iran die Entwicklung einer iranischen Atombombe verhindern sollte. Wie wird diese Rechtfertigung im Iran diskutiert?

FF | Sehr unterschiedlich. Es gibt verschiedene Begründungen dafür, warum der Iran ein Atomprogramm benötigt. Manche sehen es als nötige Energiequelle in einem Land, dem das Wasser ausgeht. Andere verstehen es als geopolitische Lebensversicherung angesichts der Tatsache, dass Israel, Pakistan und Indien Atombomben besitzen. Und es spielt eine Rolle in der nationalistischen Propaganda: Wir brauchen die Bombe »to make Iran great again«. Das ist eine Position, die sich nicht nur auf Unterstützer:innen der Islamischen Republik beschränkt. Für viele Menschen im Iran ist es vor allem ein Bluff, den das Regime einsetzt. Jeder weiß, dass das iranische Atomprogramm keine echte Bedrohung für die Welt darstellt.

BOP | Es wird viel über die militärischen und diplomatischen Reaktionen des iranischen Regimes berichtet. Wie agiert die Regierung im Inneren des Landes?

FF | Vor allem versucht die Regierung, patriotische und nationalistische Gefühle zu mobilisieren und sich als Repräsentantin aller Menschen im Iran zu inszenieren. Dafür geht sie teilweise bemerkenswert weit. Sie spricht jetzt eher von »Iranern«, wo sie früher von Muslimen oder Schiiten gesprochen hat. Sie lässt Frauen ohne Hijab oder mit locker sitzender Kopfbedeckung im staatlichen Fernsehen auftreten, wenn sie das Regime unterstützen. Aber dieser Versuch, sich als inklusiver zu inszenieren, scheint fehlzuschlagen. Die Menschen haben die Jahre der Repression, der Lügen und der Korruption nicht vergessen.  Sie lassen sich nicht einfach von der neuen Rhetorik einkaufen. Noch wichtiger aber ist, dass das Regime darin versagt hat, den Schutz der eigenen Bevölkerung zu gewährleisten.

BOP | Hat sich die Bevölkerung angesichts der israelischen Aggression im Stich gelassen gefühlt?

FF | Ja, denn dieser Krieg hat über Jahrzehnte seinen Schatten vorausgeworfen. Jeder wusste, dass ein Angriff geschehen kann. Und die Regierung hat nichts getan, um die Bevölkerung zu schützen. Als die ersten israelischen Raketen in Teheran eingeschlagen sind, gab es keine Sirenen, keine Schutzbunker, keine Informationen für die betroffenen Menschen. Es gab keinen Notfallplan, niemand wusste, wo er oder sie hinsollte. Es gibt Berichte, dass als erste Reaktion die Polizei zur Aufstandsbekämpfung auf die Straßen Teherans geschickt wurde. Das zeigt den Charakter des Regimes deutlich. Es kümmert sich nicht um die Bevölkerung und sieht sie eher als potenzielle Bedrohung. Ich würde sagen, dass das Gefühl, vom Regime im Stich gelassen zu werden, seit mindestens fünfzehn Jahren im Iran um sich greift. Ob es Frauen oder LGBTQ sind, nationale Minderheiten, Arbeiter oder Menschen, die sich gegen Umweltzerstörung engagieren: Aus unterschiedlichen Gründen machen verschiedene Gruppen und Gemeinschaften die starke Erfahrung, dass sie in diesem Staat nichts zählen. Das hat einerseits damit zu tun, dass sich das ökonomische System im Iran verändert hat. Bis in die 1990er-Jahre gab es eine Art Wohlfahrtsstaat, der der Bevölkerung grundlegende Unterstützung und Schutz gewährt hat, über alle politischen Differenzen hinweg. Das hat sich geändert, als neoliberale Reformen im Land durchgeführt wurden. Im Sozialsystem, im Bildungssystem, im Gesundheitssystem wurden Marktmechanismen eingeführt. Natürliche Ressourcen wie Wasser wurden zu Waren gemacht. Dinge, die Menschen zum Leben brauchen, wurden knapp. Zugleich wurden Protestbewegungen brutal unterdrückt, die darauf aufmerksam machen wollten. Das zusammen hat das Gefühl, vom Regime alleingelassen zu werden, im ganzen Land verbreitet.

BOP | Der Krieg stellt also eine Bedrohung für das Regime dar?

FF | Einerseits ja. Aber zugleich stabilisiert ein solcher Krieg auch die Position des Regimes. Das war schon in den 1980er-Jahren, während des Iran-Irak-Kriegs so. Der Gründer der Islamischen Republik hat damals gesagt, dass der Krieg, den sie als »heiligen Krieg« bezeichneten, ein Segen war. Und er war tatsächlich ein Segen für das Regime. Denn er lieferte eine Rechtfertigung dafür, alle Oppositionsbewegungen brutal zu unterdrücken und die Macht des Regimes zu verankern. Der aktuelle Krieg könnte sich für das Regime ebenfalls als Segen erweisen. Er ist jedenfalls ein Segen für die herrschende Ordnung in der Region, für die imperialistischen Kräfte, für Israel und seine Verbündeten. Denn wir müssen ihn in diesem weiteren Zusammenhang verstehen. Der Krieg im Iran ist verbunden mit anderen Kriegen und Genoziden, von Russland und der Ukraine bis Gaza.

BOP | Der von den USA eingeforderte Waffenstillstand scheint vorerst zu halten. Welche Möglichkeiten siehst du längerfristig, aus diesem Kreislauf von Kriegen und Repression auszubrechen?

FF | Mit dem Waffenstillstand wird vielleicht der unmittelbare Kriegszustand enden, aber die Bedingungen des Kriegs werden dadurch nicht verschwinden. Die Repression im Iran wird noch stärker werden. Der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur wird sich auf die militärischen Einrichtungen konzentrieren, das heißt, es läuft auf weitere Militarisierung und wohl auch mehr Investitionen in das Atomprogramm hinaus. Ich glaube deshalb nicht, dass es eine Lösung auf rein nationaler Ebene geben kann. Die Lösung wird regional und global sein müssen, mit all den Verbindungen und Verwicklungen, die ich angesprochen habe. Das Schicksal der Menschen im Iran ist verbunden mit jenen der Menschen in Gaza, im Libanon, im Sudan und anderswo. Wir müssen verstehen: Der Zustand der ganzen Region ist das Ergebnis einer Konterrevolution. In den letzten zehn Jahren hatten wir verschiedene revolutionäre Bewegungen in der Region: im Libanon, im Sudan, im Irak, in Rojava und auch im Iran, wo die revolutionäre Bewegung Jin, Jiyan, Azadî (Frau, Leben, Freiheit) noch 2022 ihren Höhepunkt hatte. Die repressiven Regime in der Region, die anhaltenden Kriegsbedingungen sind Teil einer globalen Konterrevolution. Wenn es etwas gibt, das mir in dieser Situation Hoffnung gibt, dann ist es die Tatsache, dass gerade in den letzten Tagen, in dieser intensiven Erfahrung des Krieges, die Erinnerungen, Erfahrungen und Verbindungen, die in den revolutionären Bewegungen entstanden sind, wieder aufgetaucht sind. Als die Bomben fielen, tauchten Zusammenhänge wieder auf, die in der Bewegung von 2022 entstanden waren, um Infrastrukturen der Sorge und Zusammenarbeit zu gewährleisten. Sie tauschten Informationen aus, organisierten Verstecke und Schlafplätze, halfen älteren Menschen oder Studierenden, die nicht in ihre Heimatstädte zurückkehren konnten. Sie organisierten Gemeinschaftsküchen und medizinische Versorgung. Am Höhepunkt der Bewegung im Jahr 2022 war es der Bewegung möglich, 164 Städte im ganzen Land auf diese Weise zu koordinieren. Diese Infrastrukturen werden jetzt gerade wieder aktiviert. Und vielleicht geht diese Aktivierung auch mit einer erneuten Politisierung einher, die Raum gibt für politischen Dissens und eine wirklich neue, andere Zukunft.

0

    Warenkorb

    Ihr Warenkorb ist leerZurück zum Shop