Fakt und Fiktion

von Benjamin Opratko

Zum Zwecke der Asylabwehr hat die österreichische Regierung eine »Notlage« ausgerufen. Ein Kommentar


328 wörter
~2 minuten

Wussten Sie schon, dass Sie sich in einer Notlage befinden? Mit 1. Juli dieses Jahres hat der Nationalrat festgestellt, dass der Staat die öffentliche Ordnung nicht mehr aufrechterhalten und die innere Sicherheit in Österreich nicht mehr gewährleisten kann. Es liegt seither offiziell eine »gesamtstaatliche Notlage« vor. Sollte sich Ihr Leben nicht wirklich nach Ausnahmezustand anfühlen, so ist das wenig verwunderlich. Die Ausrufung der Notlage hat nichts damit zu tun, wie es faktisch um Ordnung und Sicherheit in Österreich bestellt ist. Es geht darum, eine juristische Fiktion zu schaffen, um sie zur Grundlage realer politischer Notmaßnahmen zu machen. In diesem Fall dient die konstruierte Notlage dazu, zu verhindern, dass Familienangehörige von geflüchteten Menschen nach Österreich kommen. Das will die Bundesregierung unter Kanzler Christian Stocker von der ÖVP. Der Schutz der Familie ist der christlichen Partei offenbar kein durchgängiges Anliegen.

Nun ist das Recht, mit seiner engsten Familie zusammenleben zu können, ein geschütztes Gut, das sich unter anderem aus der Familienzusammenführungsrichtlinie der Europäischen Union ergibt. Diese Richtlinie ist von allen Mitgliedsländern verpflichtend umzusetzen und kann nicht einfach von einer Regierung außer Kraft gesetzt werden.

Eine Ausnahme jedoch kennt das EU-Recht, sie ist so knapp wie allgemein formuliert: wenn es um »die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit« geht. Die österreichische Regierung beruft sich nun auf diesen Artikel 72 des EU-Arbeitsweisevertrags, um Familienzusammenführungen auszusetzen. Abgeordnete von ÖVP, SPÖ und Neos stimmten im Hauptausschuss des Nationalrats für diese Farce, die FPÖ schenkte ihre Stimmen noch dazu.

Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz hat bereits im Sommer 2024 auf denselben Artikel verwiesen, um Zurückweisungen von Schutzsuchenden an deutschen Grenzen zu rechtfertigen – die ebenfalls geltendem EU-Recht widersprechen. Seit 27. Juni 2025 schränkt auch die CDU-SPD-Regierung Familienzusammenführungen ein, mit derselben Pseudo-Begründung. Fakt und Fiktion greifen hier wie dort albtraumhaft ineinander: Die Behauptung einer Notlage, wo sie nicht existiert, produziert echte Not unter jenen, die vor Gewalt und Elend fliehen.

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