Es mag am Trauma des Brexits liegen, fast ein Jahrzehnt nach dem Referendum. Vielleicht ist es eine Gegenreaktion zum damals an die Oberfläche gespülten übersteigerten Nationalismus, dem Jingoismus, wie man in England sagt. Einem in Großbritannien lebenden Mitteleuropäer fällt jedenfalls auf, dass beträchtliche Teile der britischen Intelligenz einer Sehnsucht anhängen. Dem Verlangen nach einer progressiven Idee von Europa als Antithese zur »reverse snobbery« des britischen Anti-Intellektualismus. Einer Sicht auf das Festland, die über den traditionellen Hang zu französischer Sophistikation und toskanischem Ferienhausidyll hinaus, tief hinein in die immer noch exotische, multiethnische Welt Zentraleuropas blickt. Zum Beispiel nach Wien.
Letztes Jahr befriedigte Vienna – How the City of Ideas Created the Modern World, das Buch des Economist-Redakteurs Richard Cockett, nicht nur diese britischen Bedürfnisse, sondern pinselte dabei auch der österreichischen Hauptstadt gehörig den Bauch. Die deutsche Übersetzung Stadt der Ideen – Als Wien die moderne Welt erfand war in Österreich auf der Shortlist für das »Wissenschaftsbuch des Jahres«. Als Nabel der Welt, selbst einer versunkenen, sieht man sich gern. In The Alienation Effect – How Central European Émigrés Transformed the British Twentieth Century, dem neuen Buch des britischen Architektur- und Kulturhistorikers Owen Hatherley, kommen einige derselben Protagonist:innen vor: der Pionier der Bildstatistik Otto Neurath, der Kunsthistoriker Ernst Gombrich, die Familie Freud … Doch Hatherley zäumt denselben Stoff von der anderen Seite her auf: Statt in Wien bzw. Zentraleuropa sucht er seinen Ausgangspunkt im omnipräsenten Einfluss der mitteleuropäischen Diaspora auf die britische Moderne der Nachkriegszeit. Von dort verfolgt er deren Protagonist:innen zurück zu ihren Ursprüngen und kommt dabei unweigerlich auf die Gründe ihrer Flucht zu sprechen (faschistische Repression, Antisemitismus), aber auch auf die Widrigkeiten, die den Emigrant:innen beim Wiederaufbau ihrer Existenz in einem selbstgefälligen, saturierten Großbritannien begegnen.
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