Im Stich gelassen

von Martin Reiterer

433 wörter
~2 minuten
Im Stich gelassen
Birgit Weyhe
Schweigen
Avant-Verlag, 2025, 368 Seiten
EUR 39,00 (AT), EUR 40,10 (DE), CHF 46,80 (CH)

In ihrem neuen Comic Schweigen legt Birgit Weyhe den Finger in eine schmerzhafte Wunde der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Diese Wunde klafft in jedem demokratischen Land, dessen Zusammenarbeit mit anderen Staaten in Kollaboration übergeht: in eine Form der Beziehungen, die eigene demokratische Grundsätze über Bord wirft und dabei schützenswerte Rechte von Bürger:innen verletzt.

Weyhe erzählt die Geschichte zweier Frauen, Elisabeth Käsemann und Leonor Gertrudis Marx, die in den 1970er-Jahren in die Fänge der argentinischen Militärjunta (1976–1983) geraten und schließlich ermordet werden, weil der deutsche Staat es verabsäumt, sich für ihre Freilassung einzusetzen. Im Fall von Nora Marx zeichnet die Autorin auch die Lebensgeschichte ihrer Mutter Ellen nach, die 1938 nach den Schrecken der Novemberpogrome als 17-Jährige von ihren jüdischen Eltern nach Argentinien verschickt wird; ihre Familie kommt im Holocaust um. Elisabeth Käsemann dagegen gelangt 1967 über eine kirchliche Organisation als Studentin für ein Praxissemester zuerst nach Bolivien, bevor sie sich entschließt, nach Buenos Aires zu gehen, um sich dort in sozialen Projekten zu engagieren. Die Lebensgeschichten von Nora Marx und Elisabeth Käsemann überkreuzen sich, als beide in derselben Untergrundorganisation Widerstand gegen die Junta leisten und in den Folterkammern ein ähnliches Schicksal erleben.

Entlang von Zitaten etwa von Aleida und Jan Assmann entwirft die Autorin eine Topologie des Schweigens: Es reicht von bewussten Formen des Widerstands zum Schutz verfolgter Opfer wie von jüdischen Mitbürgerinnen im Zweiten Weltkrieg, dem Schweigen aufgrund traumatischer Erlebnisse über das Wegschauen von Mitläufer:innen bis hin zum Vertuschen und Spurenverwischen der Täter:innen. In der Geheimhaltung von Verbrechen, von Folterzentren und dem Verschwindenlassen von Personen erreicht die kriminelle Form des Schweigens ihre unfassbare Zuspitzung.

Die Ereignisse erzählt die Autorin immer zuerst aus der Perspektive der Akteurinnen, auf die dann jeweils ein Kapitel folgt, das die historischen Kontexte präsentiert. So entsteht ein Geschichtspanorama zwischen Nationalsozialismus und dem Anfang des 21. Jahrhunderts, das die vielseitigen und widersprüchlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Argentinien nachskizziert. Das südamerikanische Land war bis in die letzten Kriegsjahre eines der wichtigsten Zufluchtsorte für jüdische Verfolgte aus Deutschland. Wenig später warb General Juan Perón, 1946 zum Präsidenten gewählt, reihenweise vor der Strafverfolgung geflüchtete Nazi-Schwerstverbrecher aus Deutschland und Österreich aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation an.

Schweigen ist ein anregender Comicessay und zugleich ein luzider wie bestürzender Geschichtscomic. In groben abstrakten Zeichnungen deutet sich die Monstrosität der Gewalt an, die Nora Marx und Elisabeth Käsemann erfuhren. Beide wurden Opfer eines unmündigen Rechtsstaats, der sie auf entsetzliche Weise im Stich ließ.

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