Eine Möglichkeit von Männlichkeit

von Julia Werthmann

Illustration: Adrián Astorgano

Der Prozess gegen die Vergewaltiger von Gisèle Pelicot traf Frauen bis ins Mark. Doch zugleich ließ er Männer seltsam unberührt. Was können Frauen von Männern, linken zumal, überhaupt noch verlangen?


2978 wörter
~12 minuten

Welches politische Ereignis der letzten Jahre hat Sie am meisten beschäftigt? Ein linker Mann würde wohl sagen: dass der rechtsextreme Herbert Kickl fast Kanzler geworden wäre, oder ganz allgemein: die weltweite Tendenz zur Faschisierung. Richtet sich die Frage jedoch an eine linke Frau, kommt neben der autoritären Wende wohl noch etwas anderes zur Sprache: der Prozess von Gisèle Pelicot gegen ihren Ex-Mann Dominique Pelicot und mindestens 70 andere Männer. Dieser hatte sie im südfranzösischen Mazan über Jahre hinweg regelmäßig mit Medikamenten betäubt, anderen Männern zur Vergewaltigung angeboten und die Taten gefilmt.

In den Wochen des Prozesses blickten viele Frauen, nicht nur die französischen, gebannt nach Südfrankreich. In Avignon selbst strömten dutzende Frauen zum Gerichtssaal, warteten stundenlang in der Kälte, manche verbrachten den gesamten Herbst 2024 im und vor dem Gebäude. Sie kamen, um Gisèle Pelicot zu unterstützen. Sie kamen aber auch für sich selbst, weil Gisèle Pelicots Fall etwas in ihnen bewegte – vor allem Pelicots Aussage, die Scham müsse die Seite wechseln, also von den Opfern auf die Täter übertragen werden.

Anders als vergleichbare Fälle fand der Gerichtsprozess auf Wunsch der Angeklagten im Beisein der Öffentlichkeit statt. Die schrecklichen Details der Taten, die Durchschnittlichkeit der Angeklagten, ihre armseligen Rechtfertigungen, all das konnte die ganze Welt mitverfolgen. Für viele Frauen erschien der Prozess wie ein grauenhafter Blick hinter die Kulissen eines Systems, das sie zwar tagtäglich spüren, aber selten in dieser Unverstelltheit betrachten können.

Doch auch das genügt noch nicht, um die Symbolträchtigkeit des Prozesses gänzlich zu erfassen. Seine volle Bedeutung wird erst klar, wenn wir ihn historisch einordnen. Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von einem Siegeszug feministischer Popkultur und einem gewissen feministischen Common Sense. Große Zeitungen diskutierten darüber, dass Frauen schlechter bezahlt werden, für alle anderen mitdenken und seltener in Vorständen sitzen. Man feierte die girl boss attitude einer Angela Merkel und die befreite Sexualität der Rapperin Ikkimel. Selbst konservative Blätter wie die Kronen Zeitung druckten Überschriften wie diese: »›Mental Load‹: Wenn die Mama immer an alles denkt!«. Fast drängte sich der Eindruck auf: Wir sind doch schon sehr weit gekommen. Welche Frau lässt sich heute noch den Mund verbieten? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man bei Geschlecht nicht mehr direkt auch an Hierarchie denkt. Dieser Eindruck war trügerisch – und er verstärkte die Wucht, mit der der Pelicot-Prozess in die Psyche vieler Frauen einschlug. Mit einem Mal wurde klar: Wir stehen gewissermaßen noch ganz am Anfang. Du kannst so vielen Angela Merkels hinterherjubeln, wie du willst. Du kannst so viel girl boss sein, wie du willst. Die Unversehrtheit deines Körpers garantiert dir trotzdem niemand.

In Österreich wird jede fünfte Frau gestalkt. Jede dritte Frau hat körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt. 2024 wurden 27 Frauen ermordet, nur weil sie Frauen waren. Bis September 2025 kamen elf weitere hinzu. Für so ein kleines Land ist das ziemlich viel. Im EU-Vergleich hat sich Österreich deshalb die zweifelhafte Auszeichnung »Land der Femizide« eingehandelt. Allerdings sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein globales Problem handelt. Laut Amnesty International wird global alle zehn Minuten ein Femizid verübt.

»Für viele Frauen erschien der Prozess wie ein grauenhafter Blick hinter die Kulissen eines Systems, das sie zwar tagtäglich spüren, aber selten in dieser Unverstelltheit betrachten können.«

Die Spuren, die der Pelicot-Prozess in der weiblichen Kollektivpsyche hinterlassen hat, und die schmerzhaften Fragen, die sich daraus ergeben, hat die französische Philosophin Manon Garcia in ihrem neuen Buch Mit Männern leben behutsam nachgezeichnet. Hatte die Professorin der Freien Universität Berlin in ihrem vorherigen Werk Das Gespräch der Geschlechter noch über die Möglichkeit einvernehmlicher Begegnungen nachgedacht, richtet ihr neues Buch den Blick auf das Versagen dieser Einvernehmlichkeit: auf die Vergewaltigung. Mit Männern zu leben, schreibt Garcia, geht für Frauen mit Verdrängung einher. Zwar weiß jede, dass es Gewalt gibt. Immerhin hört sie in den Nachrichten davon. Aber doch nicht in ihrem Umfeld. Ihr Partner, ihre Freunde, ihr Bruder, ihr Vater, ihr Sohn würden so etwas nie tun. Im Einzelfall mag das sogar stimmen. Und trotzdem fanden sich im Umkreis von Mazan, einer durchschnittlichen südfranzösischen Gemeinde, mehr als 70 »normale« Männer, die bereit waren, ihre regungslose Nachbarin zu vergewaltigen. Unter den Tätern befanden sich Journalisten, Handwerker, Soldaten und Bauarbeiter, Verheiratete, Alleinstehende und Väter. Das belegt, worauf Feministinnen stets hinweisen: Gewalt gegen Frauen gibt es in jedem sozialen Milieu.

Die Frage, die sich Frauen stellen müssen, lautet also nicht: Wie kann ich mich von solchen Männern fernhalten? Gewalt ist keine Anomalie, keine Eigenheit gewisser Psychopathen. Sie ist eine Möglichkeit von Männlichkeit. Der mit Gewalt oder Drogen erzwungene Geschlechtsakt und das Zuschlagen sind lediglich die Extremform eines breiten Kontinuums männlicher Respektlosigkeit gegenüber dem weiblichen Körper und seinen Grenzen. Oder wie Garcia es formuliert: »Sexuelle Gewalt ist eine Gewalt von Männern, um ihre Herrschaft auszuüben.« Doch diese Herrschaft über Frauen, ihre Körper, ihre Zeit und ihre Arbeit fängt nicht erst bei der Gewalt an. Sie ist ganz alltäglich und normal: Wenn beim Feierabendbier der männlichen Kollegen Beförderungen ausgemacht werden. Wenn der Papa das Kind leider wieder nicht aus dem Kindergarten abholen kann, weil er in der Arbeit gerade so wichtig ist. Wenn auf einmal weniger zugehört wird, nur weil die Frau in der Runde redet. All das findet sich selbst in vermeintlich aufgeklärten Kreisen. Die unaussprechlichen Taten gegen Gisèle Pelicot zu erfassen, bedeutet laut Garcia, »zu verstehen, dass alle Männer etwas mit den Angeklagten von Mazan gemeinsam haben, und zu begreifen, dass an einem sozialen System, das unter anderem die Vergewaltigungen von Mazan verursacht, alle beteiligt sind«. Zu diesem System gehört, dass Dominique Pelicot seine Ehefrau auch deshalb unter Drogen setzte, weil sie sich bei vollem Bewusstsein gewissen sexuellen Praktiken widersetzte. Teil des Systems ist ebenso, dass es überhaupt für irgendeinen Mann erregend ist, mit einer schnarchenden, regungslosen Frau Sex zu haben. Auch die späteren Unschuldsbeteuerungen im Gerichtssaal gehören dazu. So zeichnet Garcia nach, dass manche der Angeklagten angaben, zu glauben, »dass der Ehemann für seine Frau dem Sex zustimmen kann; andere, dass eine schlafende Person als zustimmend angesehen werden kann«. Auch jene, die nicht selbst ins Schlafzimmer zu Gisèle Pelicot gingen, waren nicht unschuldig. »Diejenigen, die davon wussten, sagten nichts. Und diejenigen, die es schließlich erfuhren, blieben bei ihrer Unterstützung.« Das Prinzip dahinter fasst Garcia so zusammen: »Brüderlichkeit statt Gerechtigkeit«.

Deshalb markiert der Pelicot-Prozess für die französische Geschlechterforscherin auch das Ende des Glaubens an die Justiz als Waffe im Kampf gegen geschlechtliche Gewalt. »Kein Strafwesen wird umfassend, mächtig und effizient genug sein, damit Männer aufhören zu vergewaltigen«, argumentiert Garcia. Eine gerichtlich verhängte Strafe hinkt der Tat hinterher. Weder kann sie die begangene Vergewaltigung wiedergutmachen, noch kann sie eine nächste verhindern. Auf die Wurzel des Problems hat kein Gericht der Welt Zugriff: den fehlenden Wunsch nach einer Begegnung auf Augenhöhe zwischen den Geschlechtern. Besonders deutlich wird das an den Tatvideos. Garcia möchte der Leserin deren Grausamkeit nicht ersparen, zugleich aber in ihrer Beschreibung niemals den Anschein der Erotik erwecken. Ein Fallstrick, dem in der Berichterstattung über den Fall nicht jeder Journalist entkam. Eine Szene blieb Garcia besonders im Gedächtnis: »Obwohl sie schnarcht und wie im Koma aussieht, führt er seine Zunge in Madame Pelicots Mund ein und gibt ihr Zungenküsse, ein schändliches Küssen. Das ist kein Kuss, das ist eine Penetration ihres Mundes während einer Minute, die endlos erscheint. Ich werde viele Videos sehen und auch viel ›schlimmere‹, aber dieses wird sich als nicht auszuhaltende Schändung in mein Gedächtnis einprägen.«

Was Garcia an diesem Video verstört, ist die unerträgliche Gleichzeitigkeit von Gewalt und zärtlicher Geste. Vielleicht ist es aber auch deshalb verstörend, weil hier eines deutlich wird: Schon die Rollenverteilung der klassischen Hetero-Erotik – der aktive Mann und die passive Frau – ist eng mit der weiblichen Unterwerfung verbunden. In ihrem feministischen Kultbuch Woman Hating hat die Radikal-
feministin Andrea Dworkin 1974 herausgearbeitet, wie dieses Skript die Liebesmärchen unserer Kultur bestimmt und welche beklemmenden Schlüsse es bereits Kindern nahelegt. Ein handlungsunfähiges Mädchen – ein schlafendes Schneewittchen, eine in den Turm gesperrte Rapunzel, ein leidendes Aschenputtel – zieht die Aufmerksamkeit des Prinzen auf sich. Ohne ihre Zustimmung entscheidet er, sie besitzen zu wollen. Wenn Frauen in Märchen doch als Handelnde auftreten, sind sie böse Stiefmütter oder rachsüchtige Königinnen. Zu Ende gedacht, so schlussfolgert Dworkin, bedeutet das: »Die einzige gute Frau ist eine tote Frau. Wenn sie schlecht ist, lebt sie; und wenn sie lebt, ist sie schlecht.« Ist das Verstörende an den Videos also vielleicht weniger, dass sie unsere erotische Kultur beleidigen – sondern dass sie mit dieser verwandt sind? Immerhin lernen wir schon als Kinder, dass es romantisch sei, wenn der Prinz ein komatöses Schneewittchen küsst.

Natürlich gibt es heute auch andere Geschichten, von einvernehmlicher Sexualität und starken Frauen. Es geht nicht um ein Urteil über jeden einzelnen Mann und jede einzelne Heterobeziehung. Im Konkreten werden immer Aushandlungen geführt, bisweilen wird auch Verständnis erzielt. Eine andere Männlichkeit ist möglich. Und doch bleibt gleichzeitig wahr: Auch Mazan ist möglich. Und nicht nur in Frankreich, sondern überall. Ende letzten Jahres hat etwa STRG_F, das Recherchenetzwerk des Norddeutschen Rundfunks, aufgedeckt: In einem Telegram-Channel tauschten sich unzählige Männer darüber aus, wie sie am besten ihre Partnerinnen oder Schwestern betäuben und vergewaltigen könnten – und prahlten im Anschluss mit Fotos. In Einzelfällen soll es Echtzeitübertragungen der Taten gegeben haben. Das Rechercheteam hat auf Fälle in Deutschland, Kanada und den USA aufmerksam gemacht.

Garcias Buch über den Pelicot-Prozess dreht sich auch um die quälenden Fragen, die aus diesem Wissen folgen: Können wir mit Männern leben? Um welchen Preis? Können wir sie lieben – als Partner, Freunde, Brüder, Väter oder Söhne? Was machen wir mit den verstörenden Gedanken, die sich aufdrängen, beim Abendessen mit Freunden, beim Gespräch mit dem Kollegen am Bürogang oder morgens in der U-Bahn? Garcia fragt: »Der da, glaubst du, dass ihn tote Frauen anmachen? Und der? Nirgendwo ist man in Sicherheit. Du bist paranoid. Nein, du bist nicht paranoid, du kennst die Zahlen, das ist schlimmer.«

Wer Garcias Buch liest, durchlebt Ekel, Wut und Ohnmacht. Das liegt zum einen am Material, zum anderen aber auch an Garcias Ton, der dieses Material nicht nur nüchtern analysiert. Anstatt ihre eigene Betroffenheit beim Schreiben auszublenden, wird diese offensiv Teil der Untersuchung: »Nur wenn man auch der subjektiven Erfahrung eines solchen Gerichtsprozesses Rechnung trägt, kann man voll und ganz verstehen, was es heißt, in der Welt, die dieser Prozess ans Licht bringt, ein menschliches Wesen und insbesondere eine Frau zu sein.« Dass die Autorin dieses Genre des autoethnografischen Sachbuchs wählt, sich nicht zwischen analytischer Schärfe und emotionaler Involviertheit entscheidet, ist ein Gewinn für die Leserin. Wenngleich diese vorab gewarnt werden sollte: Die Lektüre kann unerwartete Gefühle von Wut auf ihr männliches Umfeld entfesseln!

Weil der Prozess derart tiefe Spuren in der weiblichen Kollektivpsyche hinterlässt, war es für viele Frauen frustrierend zu merken, dass er Männer nicht in demselben Maße bewegte. Gisèle Pelicots Aussage, die Scham müsse die Seite wechseln, wurde mitunter als unfaire Mithaftung verstanden. Dabei geht es nicht um die Haftung für diese konkreten Verbrechen. Es geht darum, eine gute Antwort auf die von Garcia gestellte Frage zu finden: »Wie soll man sich lieben, wenn Männer den Prozess aus der Ferne verfolgen, wie ein unbedeutendes Ereignis, das sie nicht betrifft, während Frauen darin Spuren ihres Alltags sehen?« Diese Frage lässt sich über die Grenzen der Liebesbeziehung erweitern. Was bedeutet sie für Freundschaft mit Männern und für politische Genoss:innenschaft? Schließlich geht es nicht nur darum, Männer zu lieben und mit ihnen den Alltag zu teilen. In der Linken teilen wir immerhin auch eine Zukunftsidee und ein politisches Befreiungsprojekt, das für Frauen die Zerstörung ihrer patriarchalen Fesseln miteinschließt. Wenn aber die Grausamkeiten gegen Gisèle Pelicot nur wenige der sonst so unterdrückungsinteressierten Männer beschäftigt, drängt sich die Frage auf: Kämpfen linke Frauen und linke Männer denselben Kampf?

In den 1980ern verlor die alte, in der Arbeiter:innenbewegung verwurzelte Linke durch das Scheitern des Staatssozialismus wie des Eurokommunismus an Kraft. Abgelöst wurde sie durch eine neue Linke der sozialen Bewegungen: Statt des einen Arbeitskampfes gab es nun ebenfalls die Frauenbewegung, die Umweltbewegung, die antirassistische und die Lesben- und Schwulenbewegung. In den letzten Jahren ist die Tendenz beobachtbar, wieder zum geeinten Kampf unter dem Banner der Arbeit zurückzukehren. Das hat durchaus seine Berechtigung: Die Aufspaltung der Linken in viele einzelne Kämpfe, die Versteifung auf Identitätsthemen, das Vergessen von Arbeitsfragen und das Risiko neoliberaler Vereinnahmungen, die mit diesen Entwicklungen einhergingen – all das sind reale Probleme der Linken der vergangenen Jahrzehnte. Zudem ist eine Verbindung der genannten Anliegen nicht künstlich. Tatsächlich teilen alle linken Projekte den Kapitalismus als Gegner: Frauen fallen in Altersarmut, weil Sorgearbeit im profitgetriebenen Kapitalismus keinen Wert hat. Migrantisierte Menschen werden in den Niedriglohnsektor gedrängt, was unter Bedingungen verstärkter Konkurrenz von einer weißen Arbeiterschaft begrüßt wird. Nachhaltige Produktion lohnt sich nicht, Raubbau an der Natur schon. All diese Probleme ergeben sich aus der Jagd nach dem maximalen Profit und der minimalen Sorge um die menschlichen und natürlichen Bedingungen seiner Herstellung.

»Was wir hier sehen, ist eine Wahrheit, welche die Geschichte bereits häufig gezeigt hat: Der Frauenkörper muss herhalten für die Wut verwundeter Männer.« 

Und doch lässt sich nicht jeder Kampf unter das gemeinsame Banner der Mehrheit gegen eine kleine mächtige Kapitalelite fassen. Die Frage der Gewalt gegen Frauen ist nicht allein ein Problem der Elite. Sie betrifft den Durchschnittsmann genauso wie den Firmenchef. Es ist sogar so: Ökonomische Unsicherheit stellt einen Nährboden für männliche Gewalt gegenüber Frauen dar. Das zeigen verschiedene Studien, zuletzt etwa der Universität Flensburg. Gewalt ist also ein Problem der Mehrheit. Doch die wirtschaftliche Lage ist nicht der alleinige erklärende Faktor. Sonst müssten arme Frauen ebenso oft die Hand gegen ihren Partner erheben wie Männer. Das tun sie aber nicht. Genauso ist es übrigens bei sexuellen Übergriffen in der Kindheit. Weibliche Opfer geben die Gewalt kaum weiter, Männer im Zweifel schon. So war es auch bei einigen der Angeklagten im Pelicot-Prozess.

Was wir hier sehen, ist eine Wahrheit, welche die Geschichte bereits häufig gezeigt hat: Der Frauenkörper muss herhalten für die Wut verwundeter Männer. Das hat etwa die marxistische Feministin Silvia Federici in ihrem historischen Werk Caliban und die Hexe gezeigt. Hexenverbrennungen häuften sich nicht zufällig während des Übergangs zum Kapitalismus. Sie dienten einerseits dazu, die weibliche Fortpflanzungsfähigkeit in den Dienst der nationalen Produktivität zu zwingen, indem widerwillige Frauen auf den Scheiterhaufen geworfen wurden. Andererseits funktionierten sie auch als Ventil für die verbreitete Wut der Männer. Schließlich mussten diese im Zuge der Enteignungen und Vertreibungen, die am Anfang des Kapitalismus standen, große Verluste verkraften.

Wenn die Gewalt von Männern gegen Frauen gegenwärtig ansteigt, dann hängt das durchaus mit einer krisenhaften Gegenwart und den Zumutungen verschärfter Konkurrenz, mit Wohlstandsverlusten und härteren Arbeitsanforderungen zusammen. Doch gänzlich verständlich wird diese Entwicklung erst, wenn wir erkennen, dass in unserer Kultur ein erniedrigter Mann den weiblichen Körper als Schlachtfeld seiner Rehabilitierung missbraucht.

Ein linkes Projekt der Gegenwart, das sich gegen kapitalistische Ausbeutung und Faschisierungstendenzen wehrt, muss diese Zusammenhänge ernst nehmen. Das bedeutet zu verstehen, wie unterschiedliche Unterdrückungsformen zusammenhängen – ohne ihre Widersprüchlichkeiten auszublenden. Ein Mensch kann Unterdrückter etwa am Arbeitsplatz und Unterdrücker in der eigenen Familie zugleich sein. In jedem Fall ist der Kampf gegen den Abbau des Sozialstaats, schlechte Arbeitsbedingungen und Deklassierung auch ein Kampf gegen Gewalt an Frauen. Aber das reicht nicht. Selbst in einer Welt, in der Profitdruck und Konkurrenz besiegt sind, ist der Kampf gegen männliche Verfügungsgewalt noch nicht gewonnen. Das Patriarchat und männliche Gewalt sind Jahrtausende älter als der Kapitalismus – und werden daher nicht automatisch mit diesem überwunden werden.

Was bedeutet das für linke Männer? Gegenwärtig pendeln zu viele von ihnen zwischen zwei Haltungen: Sie performen den erlernten Feminismus, solange es sie nichts kostet; oder sie wehren feministische Anliegen ab, um so den vorgeblich viel wichtigeren Arbeitskampf aufzuwerten. Im Zweifel führt das zum selbstgerechten Irrtum, den Feminismus als neoliberale Identitätspolitik weißer Oberschichtsmädchen abzutun. Nun könnte man von ihnen stattdessen, Gisèle Pelicots Symbolsatz folgend, Scham und Schuldbewusstsein einfordern. Aber wäre das produktiv? Schuld ist ein lähmendes Gefühl, das für konkrete Fehltritte reserviert werden sollte. Ein schamesversunkener Genosse wäre wenig hilfreich. Produktiver ist es, so formuliert es Garcia, von Männern »einzufordern, dass sie die Männlichkeit, die über alle hinwegrollt, betroffen macht«. Betroffen zu sein von einer frauenverachtenden Kultur und sich dort gegen sie zu wehren, wo sie brüderlich bekräftigt, gefordert und ausgeübt wird: Das wäre ein Anfang, den wir von allen linken Männern verlangen müssen. Diese Haltung ist die notwendige Basis für linke Solidaritätsbande zwischen den Geschlechtern. Und die sind wiederum in einer Gegenwart der autoritären Schwerkräfte von entscheidender Bedeutung.

0

    Warenkorb

    Ihr Warenkorb ist leerZurück zum Shop