Gegen den atmosphärischen Tod

von Helmut Neundlinger

Illustration: Lou Kiss

Publizist und Psychiater, Revolutionär und Denker der Dekolonisierung: Am 20. Juli wäre Frantz Fanon 100 Jahre alt geworden.


2859 wörter
~12 minuten

»O mein Leib, sorge dafür, dass ich immer ein Mensch bin, der fragt!« Mit dieser pathetischen Selbstanrufung beschließt Frantz Fanon sein Werk Schwarze Haut, weiße Masken, im Original erschienen im Jahr 1952. Der damals gerade 27-Jährige wollte die Schrift zunächst als Dissertation einreichen, wovon ihm allerdings — mit dem Hinweis auf die ungewöhnlich literarische Sprache und Form — abgeraten wurde. Verwerfen mochte Fanon sein frühes Hauptwerk jedoch nicht und publizierte es schließlich im Pariser Verlag Éditions du Seuil.

Der Leib, der Mensch und die Frage: Früh formulierte Fanon damit drei Leitbegriffe seiner psychiatrischen, publizistischen und revolutionären Tätigkeit. Das auf vier Stunden reduzierte Schlafpensum Fanons erklärt nur teilweise die Fülle an Aktivitäten, die sich in den biografischen Rekonstruktionen aufgereiht finden. Zuweilen erscheint es, als wäre Fanon von der Ahnung seines frühen Hinscheidens im Alter von 36 Jahren angetrieben worden.

Der Leib: das Subjekt der Erfahrung, das Fanon als ausgebildeter und praktizierender Psychiater nicht bloß erforschte und zu heilen versuchte. Er erkannte in ihm den Schauplatz eines Gewaltverhältnisses, dem er bereits in seiner Heimat Martinique begegnet war und das ihn bei seinem freiwilligen Einsatz als Soldat der französischen Armee im Kampf gegen die Wehrmacht mit institutioneller Wucht traf: Seite an Seite mit den Kameraden gegen den Faschismus kämpfend und dennoch herabgestuft aufgrund seiner Hautfarbe.

Der Mensch: Das ist für Fanon der Adressat sowohl des therapeutischen als auch des politischen Zugriffs im Sinne einer Heilung, einer Emanzipation. Auf dem Feld des politischen Engagements kämpfte er für die Befreiung des Einzelnen, deren Ausbleiben nationale Befreiungskämpfe aus seiner Sicht rasch zu abstrakt-autoritären Apparaten erstarren ließ. In diesem Sinne fungiert die Frage als entscheidendes reflexives Element in Fanons Konzeption des Befreiungskampfes: Sie ist es, die Widerstand gegen ideologische Gewissheiten leistet und das Weiterwirken kolonialer Gewaltverhältnisse im befreiten Kolonisierten aufbrechen soll. Fanon, der Mensch, der fragt: Mit dieser Formel wurde er zum Impulsgeber zahlreicher dekolonialer Aufstandsbewegungen. Noch im Leitsatz »preguntando caminamos« (»Fragend schreiten wir voran«) des zapatistischen Aufstands im Süden Mexikos ab 1994/95 findet sich ein Echo seines Denkens.

Vom Soldaten zum Psychiater

Frantz Fanon wurde am 20. Juli 1925 in Fort-de-France, der Hauptstadt der Insel Martinique, geboren. Sein Vater war Zollbeamter, seine Mutter Besitzerin eines kleinen Ladens. Er war das fünfte von acht Kindern, zwei starben bei der Geburt. Die Familie bot dem kleinen Frantz ein ruhiges Aufwachsen in kleinbürgerlichen Verhältnissen. Seine Biografin Alice Cherki, die als junge Psychiaterin mit Fanon in Algerien und Tunesien in den 1950er-Jahren zusammengearbeitet hatte, berichtet von einer Episode, die Fanon selbst ihr als frühe Initiation in ein dekoloniales Denken und Handeln darstellte. Wie alle Schulkinder auf Martinique wurde er im Alter von zehn Jahren zum Denkmal von Victor Schœlcher (1804–1893) geführt, einem französischen Politiker, der im Zuge der revolutionären Erhebungen im Jahr 1848 als Abgeordneter für Martinique das Dekret zur Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien mitverfasste. Die Verehrung des »Helden, der die Sklaverei abschaffte«, erweckte im zehnjährigen Frantz die Frage nach der Zeit davor, »dieser unerhörten Geschichte der Männer und Frauen, die versklavt und dem Code noir unterworfen waren«. Diese Geschichte schien dem Kind hinter dem Denkmal des »guten Weißen« zu verschwinden. Es mutet wie ein ferner Reflex auf Fanons kindliche Erfahrung des erniedrigenden Zweifels an, dass die Schœlcher-Statue im Jahr 2020 von Black-Lives-Matter-Aktivistinnen und -Aktivisten vom Sockel geworfen wurde.

Fanon erfuhr die Janusköpfigkeit des »Mutterlandes« Frankreich am eigenen Leib, als er im März 1944 zur Teilnahme am Kampf gegen Hitler-Deutschland aufbrach. Statt der versprochenen ehrenvollen Verabschiedung wurden die jungen Rekruten in der Nacht in den Laderaum des Schiffes verbracht, als ob sie Sklaven wären. Innerhalb der Armee traf Fanon auf eine strikt rassistische Hierarchie. Zunächst in Nordafrika stationiert, nahm Fanon später an der Schlacht um das Elsass teil und war im Kessel von Colmar festgesetzt. In einem Brief an seine Eltern artikulierte er die Enttäuschung über jenes Land, das er im Geist der Französischen Revolution gegen den Faschismus verteidigen wollte: »Ich habe mich geirrt! Nichts hier, nichts rechtfertigt diese plötzliche Entscheidung, mich zum Verteidiger der Interessen des Hausherrn zu machen, der selbst drauf pfeift.«

Kurz nach Kriegsende wurden Fanon und seine antillanischen Kameraden in ihre koloniale Herkunft zurückgeschickt. Fanon absolvierte sein Abitur bei einem Lehrer, der in Frankreich bereits Bekanntheit als Dichter und Vordenker der sogenannten Négritude erlangen sollte: Aimé Césaire (1913–2008), der ab 1945 auch als Bürgermeister von Fort-de-France und Abgeordneter der französischen Nationalversammlung fungierte. Unter Césaires Einfluss verfasste Fanon Gedichte und Theaterstücke, wandte sich allerdings in der Folge vom Konzept der Négritude ab. »Es gab einen Mythos des Negers, den es um jeden Preis zu zerstören galt«, schrieb Fanon in Schwarze Haut, weiße Masken und markierte damit auch die Trennlinie zu seinem geschätzten ehemaligen Lehrer.

An die Stelle der Konstruktion einer ursprünglichen, quasi unbefleckten schwarzen Identität setzte er die Dekonstruktion jenes gesellschaftlich codierten Minderwertigkeitsgefühls, dem er im Kontakt mit der weißen französischen Mehrheitsgesellschaft ständig ausgesetzt war. Diese Erfahrung manifestierte sich systematisch nach seiner Rückkehr nach Frankreich im Jahr 1946. Das Buch Schwarze Haut, weiße Masken geriet ihm zu einer leidenschaftlichen Bestandsaufnahme: Die Emanzipation der Schwarzen wird sich Fanon zufolge nicht in einer der »Weißheit« nachgeahmten Négritude vollziehen, sondern in einer sich in ständiger Bewegung und Veränderung befindlichen Gesellschaft.

Zurück in Frankreich, nahm Fanon in Lyon ein Medizinstudium auf und inskribierte sich zusätzlich auf der geisteswissenschaftlichen Fakultät. Er besuchte Vorlesungen des Philosophen Maurice Merleau-Ponty und des Ethnologen André Leroi-Gourhan und vergrub sich in Studien zu Phänomenologie, Existenzialismus, Psychoanalyse, Marxismus. Damit erarbeitete er sich die erstaunlich breite Basis für seine späteren publizistischen Äußerungen sowie die Voraussetzung für seinen kritischen Zugang zur Institution der Psychiatrie, der er sich nach dem Abschluss seiner Dissertation im Jahr 1951 beruflich verschrieb. Nach einem kurzen, enttäuschend verlaufenen Engagement in seiner alten Heimat Martinique kehrte Fanon 1952 nach Frankreich zurück und trat eine Stelle in dem psychiatrischen Krankenhaus Saint-Alban südwestlich von Lyon an, das von dem aus Katalonien stammenden Psychiater François Tosquelles (1912–1994) geleitet wurde.

Der in der katalanisch-republikanischen Bewegung sozialisierte Tosquelles war nach seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg nach Frankreich geflohen und in einem Arbeitslager interniert worden, in dem er eine psychiatrische Abteilung gründete. Ab 1940 arbeitete er in Saint-Alban, das sich unter seiner Mitwirkung zur Zufluchtsstätte für Künstler und Résistance-Kämpfer etablierte. Aus der ungewöhnlichen Mischung an Persönlichkeiten entwickelte sich eine reformorientierte Psychiatrie, deren Nachwirkungen sich bis in die psychiatriekritischen Ansätze der 1970er-Jahre erstreckten. Im Rahmen seines 15-monatigen Aufenthalts entwickelte Fanon in der Zusammenarbeit mit Tosquelles, der später auch für den Psychiater und Philosophen Félix Guattari (1930–1992) von entscheidendem Einfluss sein sollte, das Rüstzeug für jene Form der institutionellen Therapie, die er wenig später in Algerien erprobte und praktizierte. »Seine Gegenwart bewirkte, dass du selbst kritischer wurdest, und seine tätige Brüderlichkeit ließ dich sofort begreifen, dass er anders war«, schrieb Tosquelles im Jahr 1975 über seinen Schüler und Weggefährten. Tosquelles’ überragende Bedeutung für Fanon betraf nicht zuletzt das Zusammenwirken einer Sozialisation im politischen Widerstand mit der praktischen Umsetzung emanzipatorischer Konzepte in einer so autoritär geprägten Institution wie der Psychiatrie.

Widerstand und Revolution

Im November 1953 trat Fanon eine Stelle im Krankenhaus von Blida-Joinville im Norden Algeriens an. Mit der Erfahrung von Saint-Alban im Gepäck, näherte er sich der Aufgabe in dem ihm bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend unbekannten Land mit großem Enthusiasmus. Gemeinsam mit seinem Team setzte er Akzente zur Aktivierung der Patientinnen und Patienten. Der Widerstand, der sich vor allem bei den männlichen Patienten abzeichnete, hielt ihn dazu an, sich mit den soziologischen Strukturen der heterogenen algerischen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Alice Cherki, die als Psychiaterin in Ausbildung Gelegenheit hatte, mit Fanon zu arbeiten, beschreibt in ihrem biografischen Porträt die Stoßrichtung, die Fanons Einsatz in Blida entfaltete: »Zuerst muss die Anstalt geheilt werden. (…) In dieser Perspektive muss die Aufhebung der Entfremdung das kollektive Werk des Binoms Arzt-Patient sein.«

Die Begegnung mit den traumatisierten Patientinnen und Patienten führte Fanon nicht nur einzelne Fallgeschichten, sondern auch den Zustand einer von kolonialen Strukturen geprägten und geschädigten Gesellschaft vor Augen. Der zu dieser Zeit eng mit Fanon zusammenarbeitende algerisch-jüdische Psychiater Jacques Azoulay beschrieb in seinen Erinnerungen den pionierhaften Charakter von Fanons Arbeit in Bilda. Dieser habe, so Azoualy, die Verbindung zwischen der kulturellen Unterdrückung der muslimischen Algerier und der Psychopathologie deutlicher gesehen als andere: »Fanon hat ein intellektuelles Rüstzeug, das es ihm ermöglichte, das als Material zu begreifen, was für mich ansonsten Folklore gewesen wäre«, schreibt er. Der Fanon-Biograf Adam Shatz merkt an, dass Fanon im sogenannten nordafrikanischen Syndrom nicht unbedingt einen Ausdruck kultureller Differenz, sondern »eine maskierte Form von Widerstand« erkannte. In Blida mündete dies zunächst in die »Schaffung eines therapeutischen Raumes«, wie Fanons damalige Mitarbeiterin Alice Cherki es formuliert, in dem ein soziales Netz wiederhergestellt werden sollte, in dem sich die Erkrankten gleichsam reterritorialisieren konnten.

Dieser therapeutische Raum hatte das Potenzial, die in der Gesellschaft unausgesprochen herrschende Segregation zu überwinden. Hier wurden Beziehungen zwischen »Franzosen« und »Indigenen« geknüpft, aus denen Bewegungen hervorgingen, die, wie Cherki schreibt, »direkten Kontakt zu Fanon aufnehmen, und das wird der Weg sein, auf dem er zum algerischen Befreiungskampf findet«.

Dieser Befreiungskampf hatte sich in den frühen 1950ern politisch und militärisch neu formiert. Das Massaker von Sétif im Mai 1945, dem tausende Menschen zum Opfer gefallen waren, hatte eine erste Welle militarisierten Widerstandes nach sich gezogen. Unter der Front de Libération Nationale (FLN) entstand eine guerillaartige Organisation, die ganz Algerien in sechs Bezirke (Wilayat) aufteilte und den klandestinen Kampf weitgehend dezentralisierte. Der militärische Arm der Bewegung, die Armée de Liberation Nationale (ALN), verübte am 1. November 1954 mehr als 70 Anschläge mit insgesamt drei Toten und vier Verletzten. Dieses Ereignis gilt als Auftakt jener blutigen Phase mit mehr als 1,5 Millionen algerischen Toten, die man in Frankreich erst seit 1999 offiziell als »Algerienkrieg« bezeichnet. Nur wenige Wochen danach wurde Fanon in seiner Eigenschaft als Psychiater vom FLN kontaktiert, da bei den Kämpfenden massive Belastungsstörungen aufgetreten waren. Fanon war nicht nur als Arzt, sondern aufgrund seiner in diversen Publikationen artikulierten antikolonialen Positionen in den Fokus der revolutionären Bewegung geraten. Die direkte Berührung mit dem aufständischen Milieu zog eine weitere Politisierung der Anstalt Blida nach sich. Alice Cherki und das gesamte Team um Fanon erlebten eine »intensive psychiatrische, aber auch politische Aktivität, beide waren miteinander vermischt«.

Mit der Verschärfung des Kampfes gerieten Fanon und sein Umfeld ins Visier der Behörden. Im Dezember 1956 erfolgte der Ausweisungsbescheid, der ihn vorübergehend nach Frankreich zurückzwang. Über die Kontakte der Exil-FLN in Frankreich gelangte er schließlich nach Tunis, wo sich bedeutende Teile der politischen Führung der FLN aufhielten. Fanon mutierte durch seine Arbeit für die 1956 gegründete algerische Untergrundzeitung El Moudjahid und andere Publikationen zu einem Sprachrohr der algerischen Revolution und wirkte mit seinen Beiträgen weit darüber hinaus in die heiße Phase der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen hinein. Cherki verweist auf seine »Sprache, die vom Körper in die Worte geht, von der ›Anspannung der Muskeln‹ zur ›Bewusstwerdung‹.« Wie schon in Schwarze Haut, weiße Masken beschrieb Fanon die traumatisierende Erfahrung von Kolonialismus und Rassismus, von herrschaftlicher Folter und Gewalt in ihren Auswirkungen auf den Körper der Unterdrückten. Gleichzeitig markierte der Körper für den Arzt und Psychiater Fanon auch den Schauplatz der Erhebung, des Aufstands gegen die systematische Unterdrückung.

Auch in Tunis war Fanon als Psychiater tätig: Im Krankenhaus von La Manouba stieß er zunächst aufgrund der wachsenden Feindseligkeiten der Tunesier gegenüber der algerischen Exil-Gemeinschaft auf großen Widerstand. Gefragt war seine Erfahrung in dieser Zeit vor allem im Rahmen der Behandlung psychisch erkrankter Kämpfer, die er in einem Bauernhof im Inneren Tunesiens behandelte. Eine Verlegung seines Teams von La Manouba in das Charles-Nicolle-Spital in Tunis versetzte Fanon schließlich in die Lage, auch im Exil institutionell zu wirken: Er gründete dort das »Ambulante Neuropsychiatrische Zentrum«, dem neben psychiatrischem Personal auch eine Sozialarbeiterin angehörte. Alice Cherki beschreibt das Zentrum als »Schnittstelle zwischen politischen Kämpfen, psychiatrischen Neuerungen und freundschaftlichem Einverständnis«.

Werk und Wirkung

Ausgehend von seinen psychiatrischen und publizistischen Tätigkeiten in Tunis wuchs Fanon immer stärker in die Rolle eines internationalen Botschafters der algerischen Revolution auf dem gesamten afrikanischen Kontinent hinein. Seine argumentative Basis dafür formulierte er in dem Werk L’an V de la révolution algérienne (dt.: Aspekte der Algerischen Revolution), in dem er die Struktur der Beziehungen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten analysiert und zeigt, inwiefern der Befreiungskampf die Verhaltensweisen der Kolonisierten ändert und neu gestaltet. Für Fanon standen nicht mehr die Organisationsstrukturen der FLN, sondern die Umbrüche im Alltagsleben, in den familiären und gesellschaftlichen Beziehungen im Fokus — eine Perspektive, die sich aus seiner Arbeit in der Psychiatrie entwickelte und die seine Analysen zu einem so ungewöhnlichen Dreh- und Angelpunkt in der Geschichte der Dekolonialisierungsbewegungen machen. Gegen das idealistisch vorgetragene Pathos revolutionärer Parolen formulierte er in seinem Werk die existenzielle Ausgangslage der afrikanischen Kolonien: »Der Kolonisierte nimmt das Leben nicht als Entfaltung einer unverzichtbaren Reichhaltigkeit wahr, sondern als permanenten Kampf gegen einen atmosphärischen Tod. Dieser schleichende Tod materialisiert sich durch den ständigen Hunger, die Arbeitslosigkeit, die hohe Sterberate, den Minderwertigkeitskomplex und das Fehlen von Zukunftsperspektiven.«

Den Kampf gegen diesen atmosphärischen Tod gab Fanon jedoch auch in seinen letzten Lebensjahren nicht verloren: Wiewohl er die Schwierigkeiten vorausahnte, die den afrikanischen Ländern durch die Unabhängigkeit erwachsen würden, war für ihn dieser Schritt nicht nur für Algerien, sondern ebenso alle anderen Länder Afrikas unausweichlich. Auf seinen Reisen nach Dakar, Accra und andere Zentren Westafrikas knüpfte er enge Beziehungen zu den Führern des Befreiungskampfes, etwa Félix Moumié (Kamerun), Patrice Lumumba (Kongo), Julius Nyerere (Tansania) und Roberto Holden (Angola). Im Austausch mit diesen Protagonisten sammelte sich wohl auch das Material für jenes Werk, das ihn (bis heute) weltweit bekannt machte: Die Verdammten dieser Erde, verfasst bereits in dem Bewusstsein, dass er aufgrund der 1960 diagnostizierten Erkrankung an Leukämie nicht mehr allzu lange zu leben hatte. Dieses Werk gilt zugleich als Vermächtnis und Weitergabe des Feuers an die im globalen Süden aufflammenden Unabhängigkeitsbewegungen. Fanon verknüpfte darin noch einmal die psychiatrischen mit seinen politischen Erfahrungen, gegossen in eine Sprache, die ihre Nähe zur literarischen Sozialisation nicht verleugnete.

Aufgrund des verzerrenden und missverständlichen Vorwortes seines Förderers Jean-Paul Sartre wurde dem Werk in der frühen Rezeption unterstellt, einen Aufruf zur Gewalt zu formulieren. Vor allem das Eingangskapitel unter dem Titel »Von der Gewalt« legte eine solche Interpretation nahe, allerdings hatte sich auf unheilvolle Weise Sartres Formulierung von der Gewalt »als der sich neu schaffende Mensch« darübergelegt. Einer solchen Dekontextualisierung von Gewalt wirkt das gesamte Werk Fanons entgegen: Dies betrifft nicht nur die historisch-politische Analyse der Gewalt im Ausgang aus der kolonialen Abhängigkeit, sondern auch das lange Zeit in der Rezeption kaum rezipierte Schlusskapitel »Kolonialkrieg und psychische Störungen«, in dem Fanon auf Basis konkreter Fallgeschichten die Auswirkungen systematischer Gewalterfahrungen aus psychiatrischer Sicht behandelte. Angeleitet wurde er dabei auch durch die Studien zu Kriegsneurosen in der Folge des Ersten Weltkriegs durch den ungarischen Psychoanalytiker und engen Mitarbeiter von Sigmund Freud Sándor Ferenczi (1873–1933). In der Zusammenstellung der Fälle konfrontierte Fanon die Opfer- mit der Täterperspektive und schuf damit einen schonungslosen Einblick in die Psyche des Folterns.

Fanon verstarb am 6. Dezember 1961 in den USA, wohin er zur Behandlung verbracht worden war. Das Erscheinen seines Hauptwerks erlebte er noch auf dem Krankenbett, Sartres Vorwort ließ er unkommentiert. Sein Leichnam wurde nach Algerien überstellt und mit allen Ehren der Revolution bestattet.

Fanons publizistisches Werk verbreitete sich in den folgenden Jahrzehnten in Wellen. Sein Biograf Adam Shatz beschreibt ihn als »Inspiration für die Revolutionäre der Dritten Welt, von den Flüchtlingslagern in Palästina bis zu den Seitenstraßen von Teheran und Beirut, Harlem und Oakland; Begründer des Postkolonialismus avant la lettre; Held der entfremdeten Banlieusards in Frankreich, die sich fühlen, als wäre die Schlacht von Algier nie zu Ende gegangen, sondern nur in die Cités gezogen«. In Jahr 2015 erschien in Frankreich eine fast 700-seitige Ausgabe bislang wenig rezipierter Schriften unter dem Titel Écrits sur l’aliénation et la liberté, herausgegeben von Robert Young und Jean Khalfa. Darin finden sich neben einem Schwerpunkt zu seinen psychiatrischen Schriften auch literarische Texte, die noch unter dem Einfluss von Aimé Césaire entstanden waren. Für nicht des Französischen mächtige Fanon-Interessierte schließt dieser Text mit dem Hinweis, dass dieses Werk 2018 in englischer Übersetzung unter dem Titel Alienation and Freedom erschien. Im Suhrkamp-Verlag wird anlässlich des 100. Geburtstags immerhin eine kombinierte Ausgabe der beiden Werke Aspekte der Algerischen Revolution und Die Verdammten dieser Erde neu aufgelegt.

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