Ich habe zu viel gesehen, um Angst zu haben«, sagt Małgorzata Klemens. Wir sitzen gemeinsam in ihrem Garten inmitten des Naturschutzgebiets von Białowieża im Nordosten von Polen, umgeben von Wiesen, tiefem Wald und zwitschernden Vögeln. Klemens’ Haus ist schwer zu finden, wir haben uns mehrfach verfahren, als die Sandpfade zwischen Bäumen, Gräsern und Farnen verschwanden. Ihr Garten ist ein kleines Paradies, doch die Idylle wird gestört: Immer wieder donnern Militärfahrzeuge auf dem ungeteerten Weg vor dem Haus vorbei. Denn nur wenige Hundert Meter entfernt befindet sich der schwer bewachte Grenzzaun zu Belarus. Für Gosia, wie Małgorzata Klemens von allen nur genannt wird, gehört das Militär zum Alltag – und sie hat es schon aus allernächster Nähe erlebt. 2021 sind schwerbewaffnete Soldaten auf ihr Grundstück eingedrungen und haben ihr eine Waffe an den Kopf gehalten. Doch das hat sie nicht davon abgehalten, zu bleiben.
Eigentlich wollte Gosia, von Beruf Fotografin, sich in das abgelegene Waldgebiet zurückziehen, um sich auf Naturfotografie zu spezialisieren. Aber alles kam anders. Nun rettet sie Menschen vorm Verhungern und fotografiert Grenzschutz und Militär dabei, wie sie im Naturschutzgebiet Geflüchtete misshandeln. Denn vor vier Jahren begannen sich der Białowieża-Nationalpark, der als letzter Urwald Europas gilt, und die Region Podlasie in eine andere Welt zu verwandeln. Damals entwickelte sich eine neue Fluchtroute in die EU, über Belarus nach Polen, angeheizt durch den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, der Menschen, die nach Europa fliehen wollten, die Einreise ins Land erleichterte. Seitdem ist das Grenzgebiet eine militärische Sperrzone. Soldaten und Grenzpolizei patrouillieren die Wälder auf der Jagd nach Geflüchteten. Auch bewaffnete Bürgerwehren treiben hier ihr Unwesen.
Polens Grenzwall
Zur Abschottung gegen Geflüchtete wurde ein massiver Grenzwall errichtet. Er ist 5,50 Meter hoch und fast 200 Kilometer lang, mit doppeltem Nato-Stacheldraht und besonders großen Klingen bestückt und mit Wärmebildkameras ausgestattet. Militärfahrzeuge und Drohnen patrouillieren entlang einer direkt vorm Zaun errichteten Straße. Der Wald ist ein Testfeld der polnischen Armee, die dort schweres militärisches Gerät und Überwachungstechnologien ausprobiert – zur Verteidigung gegen die russischen Aggressoren, wie es offiziell heißt. »Die Grenzarchitektur ist nicht dafür gemacht, etwas zu beschützen, sondern Menschen zu verletzen«, hatte uns eine Aktivistin der Gruppe We Are Monitoring, die die Grenzgewalt dokumentiert, bereits in Warschau mit auf den Weg gegeben. Als wir vor dem Wall stehen, wird uns klar, warum: Wer die Mauer überqueren will, muss aus fünf Metern Höhe in den Stacheldraht am Boden springen, dessen Rasierklingen Fleischwunden bis auf die Knochen reißen. Auch das hat Gosia mit ihrem Fotoapparat dokumentiert. Was treibt die Menschen zu derartigen Verzweiflungstaten, fragen wir uns. Menschen auf der Flucht, die in Polen oder Deutschland Asyl beantragen wollen, haben kaum eine andere Wahl, denn die Fluchtrouten über das Mittelmeer sind ähnlich gefährlich.
Die Gewalt, die Fliehende in den polnischen Wäldern erfahren und die Gosia uns im Garten ihres alten Holzhauses in einer langen Fotostrecke zeigt, ist nur schwer zu ertragen. Trotz massiver Einschüchterung hat sie sich immer wieder an die Tatorte in den Wäldern begeben und auf den Auslöser gedrückt. Die Bilder und Videos zeigen, wie polnische Sicherheitskräfte Menschen mit Stöcken verprügeln, wie Geflüchtete schwer verletzt und ausgehungert von freiwilligen Helfer:innen im Wald versorgt werden. Der Grad an Sadismus im Waldgebiet gleicht jenem, den man aus Berichten aus Kriegsgebieten kennt. So beschallen Soldaten auf der Suche nach Geflüchteten den Wald mit Tonaufnahmen von Hundegebell – zur Retraumatisierung, da Menschen auf der belarussischen Seite oft mit Hunden gejagt wurden – oder aber mit klassischer Musik, um die Menschen in ihren Verstecken in den Wahnsinn zu treiben. Zur Verhöhnung und Verwirrung der Umherirrenden installieren Soldaten mitten im Wald Wegweiser mit Aufschriften wie »Deutschland«, die in Richtung Belarus zeigen, und fiktiven Ortsnamen wie »Am Arsch der Welt«. Ebenfalls von Gosia dokumentiert: ein von Sicherheitskräften gebautes Totem, ein mit einer Frauenfigur bemalter Holzstamm, dem ein Büstenhalter angezogen wurde und um den herum weibliche Unterwäsche verstreut liegt – mutmaßlich ein Überbleibsel sexualisierter Gewalt.
Nach der Misshandlung werden die Menschen zurückgepusht. Auch Schwerverletzte werden in Militärlastern und Sanitätsfahrzeugen immer wieder nicht ins Krankenhaus gefahren, sondern nach Belarus und im Wald auf der anderen Seite des Zauns ausgesetzt. We Are Monitoring hat seit 2021 über 11.293 dieser Pushbacks und 97 nachgewiesene Todesfälle registriert. Die Dunkelziffer liegt weitaus höher. Selbst aus Krankenhäusern in der Podlasie-Region finden Pushbacks statt. Auch das hat Gosia mit ihrer Kamera festgehalten: eine Frau aus Somalia, die auf der anderen Seite des Grenzzauns durch die dicken Metallstreben des Grenzwalls blickt. Am Körper trägt sie noch den Kittel, der ihr im Krankenhaus der Kleinstadt Hajnówka angezogen worden war, bedruckt mit Eisbären, verschneiten Bergen und Sternen.

Auf unserer Reise durch die polnischen Wälder begleitet uns Katarzyna Czarnota, eine enge Vertraute. Sie ist Mitglied von Border Forensics, einer Partnerorganisation von Medico International, und hat selbst jahrelang Geflüchtete in den Wäldern versorgt. Nun rekonstruiert sie für Border Forensics Fälle von Grenzgewalt und greift dabei auf Gosias Fotos zurück. Während in den offiziellen Berichten Todesursachen wie Unterkühlung oder Dehydration angegeben sind, zeigt Czarnota konkrete Verantwortlichkeiten und die Instrumentalisierung der Geografie des Waldes auf. Sie rekonstruiert, wie Menschen in den Wäldern ihren Verletzungen erlagen, wie sie verdursteten, weil Militär und Polizei Aktivist:innen daran gehindert haben, sie zu versorgen.
Beweise zusammentragen ist eine mühevolle Kleinstarbeit. Czarnota berichtet, dass erst kürzlich auf dem Stützpunkt einer Polizeieinheit eine vergrabene Kiste mit dutzenden Pässen und Handys von abgeschobenen Menschen gefunden wurde, die somit ihrer Identität und Kommunikationsmöglichkeiten beraubt wurden. Diese Beweise dienen als Grundlage für den Versuch, Grenzpolizei und Armee juristisch zur Verantwortung zu ziehen.
Trotz der vielen Recherchen wird es immer schwieriger, Militär und Grenzpolizei für die Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen. Ende März dieses Jahres hat die sich als liberal verstehende Partei »Bürgerkoalition« unter Führung von Ministerpräsident Donald Tusk das Recht auf Asyl für die ostpolnische Grenzregion offiziell suspendiert. Bis wohin genau die Aussetzung geografisch gilt, ist unklar. Doch damit hat die Regierung letztlich nur das formalisiert, was seit 2021 bereits tägliche Praxis ist: die Pushbacks von Menschen, die im EU-Land Polen Asyl beantragen wollen. Dass dies europarechtswidrig ist und gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstößt, scheint nicht weiter zu stören. Polen hat diese Gewalt jahrelang mit dem Argument praktiziert, bei den asylsuchenden Menschen handele es sich um »hybride Waffen Putins«. Die EU stellte sich taub. Dann kam das Signal der deutschen Bundesregierung, dass sie es mit Völker- und Europarecht nicht mehr so genau nimmt und das Zeitalter der Aufrüstung beginnt. Mit den im Frühjahr 2025 eingerichteten Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze brach die deutsche Regierungspartei CDU selbst EU-Recht. Die polnische Regierung fühlte sich daraufhin ermutigt, das Asylrecht auch formal auszusetzen. All das ist Ausdruck des Zerfalls der rechtebasierten Ordnung, die nicht nur von rechtsextremen, sondern vor allem von liberal-konservativen Parteien vorangetrieben wird. »Nur die Tusk-Regierung konnte das Recht auf Asyl aussetzen, die rechte Vorgängerregierung unter PiS hätte das nicht geschafft, die Menschen wären auf die Straße gegangen«, meint Katarzyna Czarnota.
Zwar gibt es laut Rechtsverordnung in Polen Ausnahmen, sodass Schwangere, unbegleitete minderjährige Geflüchtete, Alte und Menschen mit gesundheitlichen Problemen trotz der Asylrechtsaussetzung weiterhin Aufnahme finden, in der Praxis ist dies aber nicht der Fall. Das zeigen Gosias Bilder eines 14-jährigen Jungen, der aus dem Bürgerkriegsland Sudan geflohen war und es über die Grenze geschafft hatte, bis er von polnischen Beamten aufgespürt und wieder auf die belarussische Seite gebracht wurde. Auf einem anderen Foto von Gosia ist eine sichtbar schwangere Frau zu sehen, die auf der anderen Seite des Grenzzauns um Asyl bittet. Da die Grenzeinrichtung ein paar Meter innerhalb des Staatsgebiets errichtet wurde, befindet sich die Frau eigentlich schon auf polnischem Boden. Doch auch das hat keine Auswirkungen. Sie wird abgewiesen.
Militarisierung und Überwachung
Die Militarisierung der Region hat nicht nur mit der Fluchtbewegung zu tun, sondern reiht sich ein in die Aufrüstung Europas im Kampf gegen den »Feind im Osten«. Im Nationalpark werden gegenwärtig die Straßen in Richtung Belarus verbreitert, damit dort in Zukunft auch zwei entgegenkommende Panzer ohne die Gefahr einer Kollision passieren können. Dafür wird Wald gerodet, Sumpfgebiet trockengelegt und Flora und Fauna massiv beeinträchtigt. Die Präsenz tausender Soldaten und anderer Sicherheitskräfte im Nationalpark, die martialisch aufgerüstet und mit modernster Waffentechnologie ausgestattet sind, ist nicht allein mit der Ankunft einiger Hundert Menschen aus diversen Kriegsgebieten und Unterdrückungsverhältnissen zu rechtfertigen. Unter dem Vorwand der Fluchtmigration ist das Gebiet zu einem Testfeld neuester Rüstungs- und Überwachungstechnologien geworden, deren Einsatz nicht nur auf diese Region begrenzt bleiben wird. Während Schutzsuchende dabei von Europa zur »hybriden Waffe« des belarussischen Machthabers Lukaschenko erklärt werden, gegen die jedes Mittel recht ist, ist spätestens seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine nun auch noch die Verteidigung der Ostflanke Europas in die Diskurswerkzeugkiste aufgenommen worden, um die Entrechtung von Geflüchteten zu rechtfertigen. Im Białowieża-Nationalpark wird für Krieg trainiert, die Geflüchteten sind dabei unfreiwillige Statisten, und die Gewalt gegen sie ist echt.

Unser Wissen über die Gewalt im polnisch-belarussischen Grenzgebiet verdanken wir einer hartnäckigen Gruppe von Aktivist:innen und Anwohner:innen, wie Gosia und Katarzyna Czarnota, die sich nicht einschüchtern lassen. Die trotz der Militarisierung der Region täglich Menschen das Leben retten. Viele von ihnen haben dafür ihre Berufe aufgegeben. Sie haben sich zu dem Netzwerk Grupa Granica zusammengeschlossen. Grupa Granica betreibt ein Alarmphone, das von Geflüchteten angerufen werden kann, die in den Wäldern Unterstützung brauchen. Es gibt verschiedene Orte im Wald, die sogenannten »basas«, von denen aus sich Aktivist:innen mit Kleidung, Essen und Erste-Hilfe-Sets auf die Suche nach den Menschen machen – in der Hoffnung, sie vor Militär oder Grenzpolizei zu finden.
Auch wenn ihre Arbeit legal ist, immer wieder wird sie den Aktivist:innen zum Verhängnis. Sie erleben Hausdurchsuchungen, werden bedroht und auf Polizeiwachen mitgenommen. Einige werden auch vor Gericht gestellt, wie die Hajnówka 5. Es sind fünf solidarische Freiwillige, die im März 2022 von polnischen Grenzbeamten festgenommen wurden, als sie einer kurdischen Familie halfen, aus dem Białowieża-Wald in ein nahegelegenes Dorf zu gelangen. Die Anklagepunkte, die sich auf Artikel 264a des polnischen Strafgesetzbuches stützen, lauten »Beihilfe zum illegalen Aufenthalt in Polen«, obwohl weder ein materieller Gewinn noch eine Schleusungsabsicht vorlag.
Kriminalisierte Hilfe
Mit Ewa Moroz-Keczynska, eine der Angeklagten, konnten wir ein Treffen arrangieren. Ewa ist Ethnologin und Leiterin der Bildungsabteilung im Nationalpark Białowieża. Als sie ausgehungerte Menschen entdeckte, die sich in den Wäldern versteckten, konnte sie nicht weiter wegschauen. Sie half zahlreichen Menschen und versorgte sie mit Kleidung und Essen, bis sie und vier andere Aktivist:innen schließlich von der Polizei festgenommen und vor Gericht gestellt wurden. Seitdem streiten ihre Anwält:innen für ihren Freispruch. Dabei werden sie unterstützt vom Szpila-Kollektiv, einer Antirepressionsgruppe. Ziel der Rechtsverteidigung und der Antirepressionsgruppe ist es, ein positives Präzedenzurteil zu schaffen, das ein für alle Mal klarmacht: Hilfe ist kein Verbrechen. Die Angeklagten sind gut vorbereitet. Vor Gericht lassen sie sich nicht einschüchtern. Ewa erklärt: »Als Bewohnerin habe ich keine Wahl. Ich musste das tun, was ich selbst meinen Schülern und meinen eigenen Kindern beigebracht habe.« Sie erkundigt sie sich bei der Staatsanwaltschaft: »Wenn Sie eine Handlung, die Menschen das Leben rettet, als Straftat bezeichnen, wie würden sie dann eine Handlung nennen, die Menschen in den Tod treibt?«
Auf unserer Reise diskutieren wir, was eine Situation wie an der polnisch-belarussischen Grenze uns lehrt. Was wir in diesen Wochen gesehen haben, zeigt: Die Gewalt beschränkt sich nicht länger auf die Ränder Europas – sie zieht sich durch das Innere der europäischen Gesellschaften. Was 2021 mit militärischer Abschottung in einem Nationalpark begann, hat sich längst zur neuen Normalität europäischer Flüchtlingsabwehr entwickelt. Die systematische Aussetzung des Asylrechts in der polnischen Grenzregion stößt politisch kaum noch auf Widerspruch. Auch Deutschland wehrt Schutzsuchende an seiner Grenze nach Osten und Süden ab, obwohl Polen für diese längst keine rechtsstaatlichen Verfahren mehr vorsieht.

Im Ergebnis entsteht eine legalisierte Rechtlosigkeit, in der der Begriff »Asyl« zur leeren Hülle verkommt. Geflüchtete werden zu einem diplomatischen Spielball im Verhältnis zwischen Warschau und Berlin. Während Deutschland Menschen zurückweist, beklagt Polen eine Überforderung durch »illegale Migration« und hat nun seinerseits Grenzkontrollen zu Deutschland eingeführt – ein politisches Pingpong-Spiel, bei dem Menschenrechte auf der Strecke bleiben. Was hier sichtbar wird, ist nicht nur ein Bruch mit dem Geist der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern auch eine dramatische Verschiebung innerhalb der europäischen Ordnung: Der Ausnahmezustand wird zum Dauerzustand, der Rechtsbruch zur Normalität, die Renationalisierung einstiger europäischer Angelegenheiten zum Strukturprinzip. Während Brüssel von einer »gemeinsamen europäischen Asylpolitik« spricht, praktizieren die Mitgliedsstaaten längst eine Politik der nationalen Abwehr und Abschottung. Es ist eine Entwicklung, die im Urwald von Białowieża ihren Ausgang nahm und deren Gewalt sich jetzt bis an Deutschlands Außengrenzen zieht; eine Entwicklung, die nicht nur das Schicksal von Geflüchteten betrifft, sondern auch die Zukunft des europäischen Projekts an sich infrage stellt.
In diesen Zeiten bedarf es mehr denn je der unerschrockenen Solidarität. Der Mut von Ewa Moroz-Keczynska hat viele der Menschen aus ihrem Dorf und der Umgebung inspiriert. Zwar wird sie auch von Rechten angefeindet, aber als Einheimische, die in der Region geboren ist und konsequent für Menschenrechte einsteht, erhält sie auch viel Bewunderung. Andere Bewohner:innen der Region tun es ihr gleich. Wenn Schutzsuchende an ihre Türen klopfen, rufen sie nicht die Polizei, sondern leisten diskret Unterstützung. In den Dörfern an der Grenze, wo es wenig berufliche Perspektiven gibt, arbeitet in fast jeder Familie jemand für die Grenzpolizei; aber es gibt auch in fast jeder Familie Personen, die schon mal einem Menschen auf der Flucht geholfen haben.
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