Koloniale Schatten

von Sophie Reichelt

452 wörter
~2 minuten
Koloniale Schatten
Thomas Schmidinger
Libyen
Vom Kolonialismus zur Grenzmiliz Europas
Bahoe books, 2025, 240 Seiten
EUR 26,00 (AT), EUR 26,00 (DE), CHF 31,10 (CH)

Thomas Schmidinger unternimmt in seinem neuen Buch eine intensive, beeindruckend detaillierte und zugleich eingängig formulierte Reise durch die jüngere Geschichte Libyens. Sie beginnt mit einem Überblick über die enorme ethnolinguistische Vielfalt der libyschen Gesellschaft und einem Abriss der Zeit als Randprovinz des Osmanischen Reiches. Darauf folgt eine eindringliche Schilderung der italienischen Kolonialherrschaft (1911–1943) und der durch sie bewirkten systematischen Entvölkerung: ein Genozid, der sich in das kollektive Gedächtnis der Libyer:innen als »Schar« (arabisch: شر, »das Böse«) eingebrannt hat.

Weiters verfolgt Schmidinger den Weg Libyens vom unabhängigen Königreich ab 1951 über den unblutigen Militärputsch Muammar al-Gaddafis 1969 und dessen 43 Jahre andauernde Diktatur. Während die Bevölkerung von den sozialstaatlichen Errungenschaften profitierte – etwa kostenfreier Bildung und Gesundheitsversorgung, finanziert durch die reichen Ölvorkommen –, litt sie zugleich unter systematischen Repressionen und der gezielten Diskriminierung minoritärer Gruppen.

Besonders eindrücklich und erschütternd zeichnet Schmidinger den opportunistischen Kurswechsel des Westens im Umgang mit Gaddafi nach: Nach der internationalen Isolation Libyens und den harten Sanktionen der 1980er-Jahre aufgrund Gaddafis (mutmaßlicher) Terroranschläge suchten westliche Ölkonzerne bereits in den 1990er-Jahren erneut den Schulterschluss mit dem Regime. Ab den 2000er-Jahren wandelte sich Gaddafi dann gänzlich vom »Paria« zum zentralen Partner in der Terrorismus- und Migrationsbekämpfung, was ihm milliardenschwere Finanzpakete der EU und einzelner Mitgliedstaaten einbrachte.

Während diese Beziehungen zum Westen detailreich beschrieben werden, kommen die komplexen regionalen Konflikte Libyens mit Ägypten, dem Tschad, Sudan, Niger und Mali zwischen den 1970er- und 2000er-Jahren leider zu kurz. Auch im Kapitel zur Revolution von 2011, in deren Verlauf Gaddafi – mutmaßlich unter Mitwirkung Frankreichs – von Milizen getötet wurde, bleiben manche Aspekte blass. So findet etwa die bedeutende Rolle libyscher Frauen in der Revolution kaum Erwähnung. Zudem wären, angesichts der wiederholten Aufenthalte des Autors vor Ort, mehr Stimmen von Libyer:innen zu erhoffen gewesen: Welche Hoffnungen tragen sie, wie sehen sie – vielleicht differenzierter als von außen wahrgenommen – Gaddafis Herrschaft, wie stehen sie »dem Westen« gegenüber, und woher rühren die Ressentiments gegenüber subsaharischen Migrant:innen?

Nach dem Sturz Gaddafis zerfiel Libyen in mehrere Machtzentren, die von unterschiedlichen Proxymächten unterstützt werden. Die Bevölkerung ist seither von Bürgerkriegen gebeutelt, ohne Besserung in Sicht. Schmidinger liefert eine präzise Analyse der heutigen Rolle der EU und ihrer Mitgliedstaaten: Im Rahmen ihrer versicherheitlichten Migrationspolitik propagieren sie die Externalisierung des Migrationsmanagements an Libyen als Lösung zur Abwehr unerwünschter Migration – und machen dabei Geschäfte mit Milizen, die Migrant:innen nicht nur foltern, sondern sie (wäre es nicht so furchtbar, wäre es beinahe ironisch) selbst nach Europa schmuggeln. Am Ende der Lektüre bleibt man fassungslos angesichts der kolossalen (post-)kolonialen Verstrickungen und Verbrechen des Westens.

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