Sebastian Kurz ist Geschichte, die Wahrheit hat obsiegt, das gute Österreich triumphiert. So oder so ähnlich klang in den letzten Wochen der allgemeine Tenor des politischen Establishments von traditionell schwarz-konservativen Milieus bis in die linksliberale Mitte. Dabei wird die Figur Sebastian Kurz in der Regel völlig missverstanden.
Der außenpolitische Berater von Bernie Sanders schrieb im Mai 2019: »Dass Trump einen Bruch mit dem Status quo darstellt und nicht dessen Produkt ist, ist die aktuell gefährlichste Idee in der amerikanischen Politik.« Er richtete sich damit gegen den moderaten beziehungsweise rechten Flügel seiner eigenen Partei, der in Trump eine Anomalie sah: einen Unfall der Geschichte, der behoben werden sollte und über den man sich peinlich ausschweigen wollte. Trump wurde entkontextualisiert und als »Fehler« abgetan, den man nicht wiederholen dürfe. Ähnliches lässt sich in den Diskussionen um Sebastian Kurz beobachten – als wäre sein Rücktritt das Ende eines Albtraums, nach dem man nun wieder »richtig« arbeiten könne; zurück in einer fiktiven (und romantisierten) Normalität, wie sie vor Kurz existierte. Dem nunmehrigen Ex-Kanzler ist in dieser Erzählung lediglich die Funktion eines Schreckgespensts zugedacht, in das man alle Ruchlosigkeiten der jüngeren Vergangenheit projizieren kann, ohne über die Jahre davor und die eigene Rolle nachdenken zu müssen.
Lohnender ist es freilich, Sebastian Kurz nicht isoliert, sondern im Kontext vergleichbarer Parteien und politischer Formationen zu betrachten. In den letzten Jahren hat sich ein Teil des etablierten Konservatismus von seiner staatstragenden Rolle verabschiedet und eine Radikalisierung nach rechts vollzogen. Dazu gehören die Republikaner unter Trump, die Tories unter Johnson oder eben die ÖVP unter Kurz. Es spielt dabei überhaupt keine Rolle, ob Kurz, Trump oder Johnson bis in die Wolle gefärbte ideologische Überzeugungstäter sind oder nicht. Entscheidend ist, dass wir es hier mit konservativen Parteien zu tun haben, die mit den Mitteln der extremen Rechten arbeiten – und zwar auf strategischer, ideologischer, aber auch handwerklicher Ebene – und damit erfolgreich sind. Der radikalisierte Konservatismus hat dabei einen absoluten Machtanspruch und er ist nicht bereit, diesen im Ausgleich, im Konsens zu teilen.
In den Nachkriegsjahren haben sich nicht nur in Österreich zwei dominante systemstabiliserende Parteien etabliert – eine konservative und eine (sozial-)demokratische. Indem die konservative Partei diese Position aufgibt, überlässt sie der (sozial-)demokratischen die alleinige Rolle einer systemerhaltenden (konservativen) Kraft. Gleichzeitig präsentiert sich die radikalisierte konservative Partei als neue, frische Alternative zu einem überholten Nachkriegskonsens. Sie hat erkannt, dass das System an allen Ecken und Enden bröckelt und multiple Krisen heraufdräuen. Und sie hat erkannt, dass das Möglichkeitsfenster für Neues weit offen ist. Gleichzeitig wird das Bedienen der Interessen verschiedener Kapitalfraktionen im alten System immer prekärer. Diese sehen neue Möglichkeiten und setzen auf die Radikalisierung konservativer Parteien. Politischer Machterhalt und der Erhalt von bestimmten Kapitalinteressen gehen Hand in Hand.
Der radikalisierte Konservatismus präsentiert sich als schwer zu begreifendes Phänomen. Er ist weder Ideologie noch Abspaltung, sondern eine Dynamik innerhalb des Konservatismus. In der Praxis zeigt er eine Vielzahl an Strategien. Die wichtigste ist, Medien und politische Gegner in einen permanenten Aufreibungszustand zu versetzen. Kalkulierte Übertretungen von informellen Regeln des Anstands, der Moral und der Etikette gehören dabei ebenso dazu wie ein mindestens zweifelhaftes Verhältnis zu formellen Regeln wie Gesetzen. Die eigenen Wähler werden zu Fans, die Führungsperson an der Spitze zum Rockstar (oder zum Sektenführer, je nachdem, welche Betrachtungsweise man bevorzugt). Die Entgrenzung der schnöden Parteipolitik zeigt sich auch darin, dass diese Parteien in einem einzigen Wahlkampf leben. Dementsprechend zählen nur die nächsten 24 Stunden oder die Schlagzeilen am nächsten Tag. Permanentes Legitimationsmittel sind, wie auch in der aktuellen Causa, Umfragen.
Und während im Vordergrund an der Erregungsspirale gedreht wird, passiert im Hintergrund der eigentliche Trick. Es geht darum, in atemberaubender Geschwindigkeit und Erbarmungslosigkeit den Sozialstaat, den Rechtsstaat und demokratische Errungenschaften abzubauen. Dabei wird der Staat nicht brutal zertrümmert, sondern systematisch entleert, sodass am Ende nur noch eine Hülle übrig bleibt. Eine autoritäre Wende mit schönen Fassaden.
Nun ist Sebastian Kurz weg und zurück-, wahlweise »zur Seite« getreten. Die Bedingungen, die ihn hervorgebracht haben, sind allerdings nach wie vor vorhanden. Sein erstes und wichtigstes Versprechen, das nach Veränderung, bleibt als gesellschaftliche Sehnsucht bestehen. Wie es mit ihm weitergeht, ist vollkommen offen. Vielleicht wird Kurz eine der vielen weiteren Bomben zum Verhängnis, die in Chats und E-Mails verborgen liegen. Vielleicht setzen sich tatsächlich andere Kräfte innerhalb seiner Partei durch. Gut möglich auch, dass der offensichtliche Plan einer Rückeroberung des Kanzleramts aufgeht.
Eines allerdings ist ausgeschlossen: ein Zurück in die fiktive Normalität. Schon jetzt beginnt der Kampf um den Geschichtseintrag: Handelte es sich bloß um unbedachte Formulierungen in Chats oder wurden wir Zeuginnen des Versuchs einer verschworenen Clique, sich den Staat unter den Nagel zu reißen? Bleibt am Ende übrig, dass Politik nun einmal ein schmutziges Geschäft und Sebastian Kurz lediglich einer von vielen darin war, oder werden wir die neue Qualität des Systems Kurz in Erinnerung behalten? Nur das Geschehene zu erzählen wird nicht reichen. Es gibt keinen unsichtbaren Schiedsrichter, der Sebastian Kurz daran hindert, erneut Bundeskanzler zu werden (oder es mindestens zu versuchen), weil er es dieses Mal aber »wirklich« überdreht hat.
An der Linken im weitesten Sinne läge es daher, Alternativen anzubieten – in aller geringster Erwartungshaltung etwa ein grün-liberal-sozialdemokratisches Bündnis bei den nächsten Nationalratswahlen, das seine Projekte vorab präsentiert und so eine Regierung fernab von ÖVP und FPÖ greifbar macht. Das könnte aber auch eine linke Politik sein, die nicht immer über das Aufreger-Stöckchen der radikalisierten Konservativen springt, stattdessen aber alternative Entwicklungswege anbietet. Was könnte es bedeuteten, wenn linke und nicht rechte Kräfte diese Zukunft gestalten? Fatalismus ist völlig fehl am Platz, die Zukunft ist offen wie nie.
»NUN IST SEBASTIAN KURZ WEG UND ZURÜCK-, WAHLWEISE ›ZUR SEITE‹ GETRETEN. DIE BEDINGUNGEN, DIE IHN HERVORGEBRACHT HABEN, SIND ALLERDINGS NACH WIE VOR VORHANDEN.«
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