Es ist bereits stockdunkel, als wir in der Seilbahn hinunter nach La Paz gleiten. Wegen der verspäteten Ankunft am Flughafen in El Alto hätten wir beinahe die letzte Gondel verpasst. Trotz dicker Winterjacke ist es eiskalt. Unbenommen der vielen Lichter, die von der dichten Besiedlung zeugen, herrscht eine klandestine Stille.
Von der österreichischen Firma Doppelmayr erbaut und seit 2014 in Betrieb, ist der Teleférico eines der Prestigeprojekte der ehemaligen Regierung Evo Morales: öffentliches Verkehrsmittel und symbolische Verbindung zwischen La Paz und El Alto. Jene zwei Nachbarstädte, die auf den ersten Blick nahtlos ineinander überzugehen scheinen. Die politischen Klüfte zwischen diesen beiden Welten haben sich den letzten Wochen hingegen erneut aufgetan. Anders als im Nachbarland Chile und in Ecuador rebelliert das Volk nicht gegen die Regierung, sondern die gesellschaftlichen Spaltungen gehen quer durch die bolivianische Bevölkerung.
»Die Lage in den barrios populares ist dramatisch«, erzählt Ignacio »Nacho« Levy. Nacho ist ein bekannter Basisaktivist und der Mitherausgeber einer Kulturzeitschrift aus eben jenen Vierteln in Argentinien. Wir sind einander zufällig im Flugzeug begegnet. Gekommen sei er, um darüber zu berichten, worüber die bolivianische und internationale Presse nicht spreche: »Wir sind hier aktuell nicht gern gesehen«. Und tatsächlich vermittelt die ganze Szenerie in der Nacht von La Paz das Gefühl einer illegalen Geheimmission.
Dekretierte Straflosigkeit
Ende November ist die Gemengelange in La Paz unübersichtlich. Benzin und einige Lebensmittel sind bedingt durch Straßenblockaden Mangelware. In der Woche davor hat die Repression durch die De-facto-Regierung von Jeanine Áñez ihren Höhepunkt erreicht. Die verschärfte Versorgungslage hatte das Militär zunächst dazu veranlasst, die Blockade einer Gasspeicherstation in Senkata in El Alto gewaltsam aufzulösen. Acht Menschen wurden beim »Massaker von Senkata« getötet, zahlreiche wurden verletzt. Die Gesamtbilanz des Vorgehens von Militär und Polizei ist nach kaum zwei Wochen Amtszeit der Regierung Áñez bestürzend. 32 Tote, 832 Verletzte und 1513 Festgenommene zählt die entsendete Delegation des Parlasur bis Ende November. Die »Interamerikanische Kommission für Menschenrechte« spricht von schweren Menschenrechtsverletzungen, die weitergehender Untersuchungen bedürfen. Gedeckt wurde das Vorgehen der Sicherheitskräfte durch ein Dekret der De-facto-Präsidentin, die den Militärs, die bei der »Herstellung der inneren Ordnung und öffentlichen Stabilität« helfen, Straffreiheit zusicherte. Erst später muss Áñez das Dekret auf internationalen Druck hin wieder zurücknehmen. Während wir La Paz immer näherkommen, regiert noch die dekretierte Straflosigkeit.
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