Lenins Staat

von Alfred J. Noll

Illustration: Christoph Kleinstück

Am 22. April jährt sich Lenins Geburtstag zum 150. Mal. Am Vorabend der Oktoberrevolution von 1917 setzte er mit Staat und Revolution eine analytische und programmatische Maschine in die Welt.Eine...


1898 wörter
~8 minuten

Für Lenin ist die Grundfrage jeder Revolution die Frage nach der Macht im Staate. Ohne Klärung dieser Frage könne von keiner wie immer gearteten bewussten Teilnahme an der Revolution die Rede sein, von einer Führung derselben ganz zu schweigen. Lenins Schrift aus dem Jahr 1917 Staat und Revolution ist der Versuch einer derartigen Klärung. Das Buch – dessen Endabfassung von der Revolution verhindert wurde – wurde geschrieben, als Lenin sich seiner revolutionären Sache, ihrer wirklichen geschichtlichen Chance alles andere als sicher sein konnte, und es ist bezeichnend, dass er darin keine taktischen Ratschläge gibt, sondern eine begriffliche, also sowohl analytische wie programmatische Maschine zur Verfügung stellt. Lenin hat die Staatsfrage als brennende Frage des kämpfenden Proletariats erkannt und dargestellt. Darin liegt die politische Bedeutung von Staat und Revolution – Lenins »most powerful theoretical text«, wie Tariq Ali einmal schrieb. Und es ist nach wie vor die beste Zusammenfassung des klassisch marxistischen Denkens über die strukturfunktionale Seite der Machtfrage.

Aus heutiger Sicht stellt diese erstmals 1918 publizierte Schrift das Scharnierstück dar zwischen dem bis 1917 geführten Kampf gegen die Bourgeoisie als herrschende Klasse und dem ab 1917 geführten Kampf gegen die Bourgeoisie als beherrschte Klasse. Die herausragende Bedeutung von Staat und Revolution liegt nicht in der damals von Lenin intendierten Rekonstruktion der marxistischen Lehre vom Staat (wiewohl ihm gerade dies wichtig ist), sondern darin, dass hier tatsächlich etwas völlig Neues auf dem Gebiet der Staatstheorie in Verbindung mit der Staatspraxis aus der Taufe gehoben wurde. 

Worin besteht das Neue? Zunächst einmal besteht es darin, das Alte auf den Misthaufen der Geschichte zu werfen; es besteht in der völligen Ablehnung all dessen, was dem liberalen Verfassungsstaat auch nach heutiger Vorstellung teuer und wertvoll ist. Das wirklich Revolutionäre an Lenins Staat und Revolution liegt darin, dass hier zunächst die liberale Trennung von Trägerschaft und Ausübung der Staatsgewalt abgelehnt wird; weiters darin, dass die Befugnisse von Regierungsfunktionären an imperative Mandate gebunden werden; dass Lenin den Freistaat ebenso ablehnt wie das Ständewesen, die Monarchie, die parlamentarische und die Präsidialrepublik, den Absolutismus und den Konstitutionalismus, die Militärdiktatur, das Territorialwahlrecht und das Verhältniswahlrecht; dass alle liberalen Wege der Gesetzgebung abgelehnt werden, dass überhaupt alles abgelehnt wird, was als Signum des liberalen Verfassungsstaates heilig scheint: keine Regelung von Eingaben und Annahmen vorgesetzlicher Anträge und Entschließungen, kein Interpellationsrecht, keine liberale Kontrolle des Heeres, der Polizei und der Nachrichtendienste, keine liberale Bildung und Ausbildung, kein liberales Gesundheitswesen, schon gar keine liberalen politischen Rahmenbedingungen für den Medienbetrieb; all das soll es nicht mehr geben, denn das alles ist aus dem Kapitalismus hervorgegangen und müsse deshalb abgeschafft werden, wenn man ihn loswerden will. Und Lenin setzt, gewissermaßen als Krönung des Ganzen, noch eins drauf: Die Herrschaft des Proletariats in und mit ihrem Staat werde in keinem Falle davor haltmachen, diesen Staat mit Gewalt und notfalls auch mit Terror gegen seine Feinde zu verteidigen und auszubauen. Der alte, überkommene Staatsschrott müsse beseitigt werden – der Staat müsse zerschlagen werden, er müsse ersetzt werden durch die Sowjets als Kerninstitutionen der politischen Machtausübung, vermittels derer die Diktatur des Proletariats am besten realisiert werden könne. »Alle früheren Revolutionen«, schreibt Lenin noch vor der Oktoberrevolution, »haben die Staatsmaschinerie vervollkommnet, man muß sie aber zerschlagen, zerbrechen. Diese Folgerung ist das Hauptsächliche, das Grundlegende in der Lehre des Marxismus vom Staat.« (LW 25, 418) 

Lenin wollte absolut sicher gehen, dass keinerlei Respekt für formale Legalität oder auch nur gegenüber einer verfassungsmäßigen Mehrheit die Bolschewiki davon abhielten, die sich bietenden Möglichkeiten zu ergreifen, um die notwendigen revolutionären Änderungen durchzusetzen. Die entschlossene Diktatur ist gegen Trägheit, gegen Klassenmacht und gegen die Üblichkeiten gerichtet. Das Proletariat, so sagt Lenin sinngemäß, muss zuerst die Bourgeoisie stürzen und die Staatsmacht erobern, und es muss dann die Staatsmacht – die Diktatur des Proletariats – als das Instrument seiner Klasse gebrauchen, um in revolutionärer Weise durch die Befriedigung ihrer ökonomischen Bedürfnisse auf Kosten der Ausbeuter die Anerkennung durch die Mehrheit zu gewinnen; diese Mehrheit benötigt die unmittelbare praktische Erfahrung, um sie in die Lage zu versetzen, zwischen der Führung durch die Bourgeoisie und der Führung durch das Proletariat unterscheiden zu können; es geht darum, den Menschen »an Hand langer Erfahrungen und einer langen Reihe praktischer Beispiele zu zeigen, daß es für sie vorteilhafter ist, für die Diktatur des Proletariats zu sein als für die Diktatur der Bourgeoisie, und daß es ein Drittes nicht geben kann« (LW 25, 425). All jene, die über die Oktoberrevolution behaupten, sie sei nichts anderes als ein Putsch gewesen, haben wenig Verständnis für das, was eine Revolution ist: Nach Marx und Lenin ist es ein gigantisches Erwachen der Millionen Ausgebeuteten, die plötzlich die Zuversicht in ihre eigenen Fähigkeiten gewinnen, sich selbst zu befreien. Lenin benennt ganz klar die durch den praktischen Kampf der Arbeiter und die daraus gewonnenen und in der Theorie verarbeiteten Erfahrungen der Massen als die entscheidende Voraussetzung für dieses revolutionäre Erwachen. Sodann aber gelte es, den revolutionären Prozess wachzuhalten.

Freilich umreißt auch Lenin eine Vorstellung von »Recht«, es heißt bei ihm alsbald, man müsse sich vom sozialistischen Rechtsbewusstsein leiten lassen (LW 29, 115), zugleich, dass derjenige ein schlechter Revolutionär sei, »der im Augenblick des heftigen Kampfes vor der Unantastbarkeit des Gesetzes haltmacht« (LW 27, 517), ferner, dass das Gesetz nichts anderes als eine politische Maßnahme, eben Politik sei (LW 23, 40), und dass schließlich das Gesetz nur »ein Willensausdruck der Klassen [ist], die gesiegt haben und die Staatsmacht in Händen halten« (LW 13, 327).

»WORIN BESTEHT DAS NEUE? ZUNÄCHST EINMAL BESTEHT ES DARIN, DAS ALTE AUF DEN MIST- HAUFEN DER GESCHICHTE ZU WERFEN; ES BESTEHT IN DER VÖLLIGEN ABLEHNUNG ALL DESSEN, WAS DEM LIBERALEN VERFASSUNGSSTAAT AUCH NACH HEUTIGER VORSTELLUNG TEUER UND WERTVOLL IST.«

Das Recht verliert damit seinen essentiellen Charakter sowohl im Sinne der Gesetzlichkeit (es wird somit zum vom Rechtsbewusstsein geleiteten Willkürakt) als auch im Sinne der wesentlichen Forderung, nicht nur Instrument der Machtausübung, sondern auch Maß für die Machtausübung zu sein. Lenin betont lediglich die Funktionaleigenschaft des Rechts (seinen instrumentellen Wert bei der Herrschaftsausübung), und damit verliert das Recht seinen maßstabgebenden Charakter – es wird auf ein Vehikel der Machtdurchsetzung reduziert.

Nach der Oktoberrevolution orientiert sich Lenins Verständnis von Freiheitsrechten völlig an den Notwendigkeiten der Herrschaft über die Bourgeoisie: »Wir haben offen erklärt«, schreibt er in der ersten Hälfte des Jahres 1919, »daß wir in der Übergangszeit, in einer Zeit erbitterten Ringens, nicht nur keine Freiheiten nach rechts und links versprechen, sondern von vornherein sagen, daß wir den Bürgern, die der sozialistischen Revolution im Wege stehen, ihre Rechte entziehen werden. Und wer wird darüber richten? – Richten wird das Proletariat.« (LW 29, 287 f.) Gut ein Jahr später muss er aber feststellen: »Der Bürokratismus ist in unserer Staatsordnung so sehr zum wunden Punkt geworden, daß in unsrem Parteiprogramm von ihm die Rede ist, und zwar deshalb, weil er mit diesem kleinbürgerlichen Element und seiner Zersplitterung zusammenhängt. Zu überwinden sind diese Krankheiten nur durch den Zusammenschluß der Werktätigen, damit sie es verstehen, nicht nur die Dekrete der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion zu begrüßen […], sondern damit sie es auch verstehen, durch die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion ihr Recht zu verwirklichen, was augenblicklich nicht nur auf dem Lande, sondern auch in den Städten und sogar in den Hauptstädten nicht der Fall ist! Häufig versteht man es selbst dort nicht, sein Recht durchzusetzen, wo am meisten gegen den Bürokratismus gewettert wird.« (LW 32, 190 f.) Darin drückt sich die große Hypothek der Kommunisten in der jungen Sowjetunion aus: Es fehlte an den staatlich-institutionellen Ressourcen, um nach Weltkrieg und Bürgerkrieg umzusetzen, was dekretiert wurde. »Wir sind in organisatorischer Hinsicht schwach«, sagt er im April 1920 auf dem Gesamtrussischen Gewerkschaftskongress, »schwächer als alle fortgeschrittenen Völker.« (LW 30, 501) Lenin ist dies bewusst, er hat sich darum aber zuvor nicht gekümmert. Er postuliert situativ den Ausweg über eine bessere Bildung der Arbeiterklasse und deren Beteiligung an den Entscheidungsprozessen. In der Praxis geschieht aber genau das Gegenteil. Das hat unter anderem zur Folge, dass der instrumentelle Charakter des Rechts eine immer stärkere Betonung erfährt. Wenn Lenin anlässlich der ersten Verfassung vom 10. Juli 1918 feststellt, dass »alle Proletarier erkannt und in der Verfassung, in den Grundgesetzen der Republik niedergeschrieben [haben], daß es sich um die Diktatur des Proletariats handelt« (LW 32, 280), dann stimmt das nur insofern, als diese »erste Verfassung […] die Macht der Werktätigen als Staatsmacht proklamiert« (LW 27, 556), aber eben nur »proklamiert« – gesichert ist sie damit noch nicht. Und dieser mangelnden Absicherung proletarischer Herrschaft versucht die Partei immer öfter und nachdrücklicher durch militärisch-polizeiliche Gewalt Herr zu werden. 

Lenin hat keinen Zweifel daran gelassen, dass die Herrschaft der Arbeiterklasse am Beginn der Sowjetunion (auch) mit Gewalt zu sichern sei. Weil ihm aber das Recht nur in seiner Funktionalität als Herrschaftsmittel und nicht auch als ein verbindliches Maß der Herrschaftsausübung vor Augen steht, kann er sagen: »Das Gericht soll den Terror nicht beseitigen […], sondern ihn prinzipiell, klar, ohne Falsch und ohne Schminke begründen und gesetzlich verankern. Die Formulierung [des zu erlassenden Strafgesetzbuches] muss so weitgefasst wie möglich sein, denn nur das revolutionäre Rechtsbewusstsein und das revolutionäre Gewissen legen die Bedingungen fest für die mehr oder minder breite Anwendung in der Praxis.« (LW 33, 344) Das ist nichts anderes als die Einladung zum jeweils situativ für unerlässlich empfundenen Gerichtsterror. 

Man sollte sich nicht darüber hinwegschwindeln, dass mit diesen Worten die konzeptionellen Bedingungen für die Möglichkeit der nachfolgenden Verbrechen im Namen der Arbeiterklasse gelegt werden. Vergessen werden sollte aber auch nicht, dass Lenin, fast schon am Ende seines Lebens, in der Prawda vom 4. März 1923 unter dem Titel »Lieber weniger, aber besser!« aufstöhnte: »Mit dem Staatsapparat steht es bei uns derart traurig, um nicht zu sagen abscheulich, daß wir uns zunächst gründlich überlegen müssen, wie wir seine Mängel bekämpfen sollen, eingedenk dessen, daß diese Mängel ihre Wurzel in der Vergangenheit haben, die zwar über den Haufen geworfen, aber noch nicht überwunden, noch nicht in das Stadium einer in ferner Vergangenheit entrückten Kultur eingetreten ist […] Bei uns […] ist das Gute an der sozialen Ordnung äußerst schlecht durchdacht, nicht verstanden, nicht innerlich empfunden, ist hastig aufgegriffen, nicht nachgeprüft, nicht erprobt, nicht durch Erfahrung bestätigt, nicht verankert usw.« (LW 33, 474) Vorangestellt war dieser Passage eine Bemerkung, die mancher und manchem heute seltsam anmuten dürfte: »Für den Anfang sollte uns eine wirkliche bürgerliche Kultur genügen, für den Anfang sollte es uns genügen, wenn wir ohne die besonders ausgeprägten Typen vorbürgerlicher Kultur auskommen […] In Kulturfragen gibt es nichts Schädlicheres als Übereile und Leichtfertigkeit. Das sollten sich viele unserer jungen Publizisten und Kommunisten gut hinter die Ohren schreiben.« (ebd.) Freilich hat Lenin selbst seinen Anteil daran, dass die »Rechts- und Staatsfrage« nachfolgend in der Sowjetunion nie als eine »Kulturfrage« gesehen werden konnte – und der nachfolgende Terror war deshalb nicht nur zeitbedingten Umständen geschuldet (das war er gewiss auch!), sondern er wurde von Lenins defizitärer Staats- und Rechtstheorie mitverursacht.

0

    Warenkorb

    Ihr Warenkorb ist leerZurück zum Shop