Aus der Mitte über den Rand

von Andrea Heinz

570 wörter
~3 minuten
Aus der Mitte über den Rand
Ivan Jablonka
LAËTITIA ODER DAS ENDE DER MANNHEIT
Matthes & Seitz, 2019, 384 Seiten
EUR 28,80 (AT), EUR 28,00 (DE), CHF 35,60 (CH)

Es gibt Geschichten, die sind alles andere als gut, die sind voller Horror und Leid. Geschichten, bei denen man sich fragt, wie man es überhaupt noch aushalten kann auf dieser Welt. Aber, zynisch betrachtet: Als Narrativ sind sie oft verdammt gut. Man kann davon ausgehen, dass sich Ivan Jablonka, Professor für Geschichtswissenschaft in Paris, deshalb dazu entschlossen hat, ein Buch über Laëtitia Perrais zu schreiben. Laëtitia oder das Ende der Mannheit erzählt davon, wie sie in den 90er Jahren an der Westküste Frankreichs unter bedrückenden Bedingungen aufwuchs: Gewalt, Alkoholismus, Überforderung. Gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester kommt sie zu Pflegeeltern. Am Ende wird auch noch ihr Pflegevater wegen sexuellen Missbrauchs zahlreicher Pflegetöchter verurteilt – aber da ist Laëtitia bereits tot und zum Medienereignis geworden, das ganz Frankreich bewegt. Sie wurde ermordet. Brutal, wie es gerne heißt. Aber was ist schon ein Wort gegen das, was Menschen einander antun können, gegen einen seinerseits schwer beschädigten, vorbestraften Arbeitslosen, der ein 18-jähriges Mädchen entführt, ermordet, zerstückelt. Den Moment, bis alle Teile der Leiche gefunden sind, bis man erfährt, wie sie zugerichtet wurde, zögert Jablonka hinaus und das ist eines der Dinge, die man ihm vorwerfen kann. Natürlich, auch im realen Kriminalfall wurde der Rumpf der Leiche erst nach Monaten gefunden. Im Buch wird daraus jedoch ein dramaturgischer Trick, auf den man, schon allein aus Respekt, hätte verzichten können.

Warum Jablonka sich überhaupt dafür entschieden hat, vom »Fall Laëtitia« zu erzählen, ist leicht nachvollziehbar: Die Geschichte ist eben wirklich gut. Laëtitias Schicksal erzählt viel über die dunklen Seiten reicher Wohlfahrtsstaaten. Über Menschen am sogenannten Rande der Gesellschaft, der ja immer nur ein Rand ist aus der Perspektive jener, die in der Mitte sitzen und Deutungsmacht haben. Er erzählt von einem Sozialstaat, der Klassengesellschaft ist, in Frankreich genauso wie in Österreich oder Deutschland. Von Armut, geringer Bildung, Hilflosigkeit und mangelnder Perspektive. Zu guter Letzt wurde der Fall selbst zum Politikum: Nicolas Sarkozy instrumentalisierte ihn, um sich im Wahlkampf als Hüter von Gesetz und Ordnung zu profilieren und trieb damit die französischen Richter auf die Straße, die ein kaputt gespartes Justizsystem beklagten.

Jablonkas Motive sind ehrenwert, keine Frage. Zweifelsohne ist er von Empathie und den besten Absichten getrieben: Er will einem jungen Mädchen, das von der Öffentlichkeit erst wahrgenommen wurde, als es toter Körper war, seine Menschlichkeit wiedergeben. In Frankreich wurde sein Buch unter anderem mit dem Prix Médicis ausgezeichnet und hoch gelobt. Tatsächlich ist es gründlich recherchiert und mit vielen Fakten und Informationen angereichert, es gibt einen guten Einblick sowohl über die Arbeit von Sozialbehörden und Polizei als auch den Strafvollzug in Frankreich. Aber sein Tonfall ist, zumindest in der deutschen Übersetzung von Claudia Hamm, latent selbstverliebt. So sehr er sich auch bemüht, Laëtitia Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und anklingen lässt, dass er sich seiner überlegenen Position bewusst ist, reflektiert er sie nicht. Er will Laëtitia ihre Würde zurückgeben – braucht es dazu aber wirklich Sätze wie diesen: »Zart verstreute Leberflecken schmückten Dekolleté und Rücken«? Unfreiwillig führt Jablonka vor, wie groß das Machtgefälle eben tatsächlich ist. Und dass es einen wie ihn braucht, seine Worte und Vorstellungen von ihr, um eine wie sie zu »befreien«. Ein großes Missverständnis.

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