Wer in der Vielfachkrise des Kapitalismus trotz eines neoliberalen Programms Wahlen gewinnen will, muss einen Bruch vollziehen. Das ist es, was Sebastian Kurz frühzeitig begriffen hat und worauf er die ÖVP mit seiner rechtspopulistischen Wende seit 2016 festgelegt hat. Wie erfolgreich diese Aneignung des Kampfes der FPÖ um eine rechte Verschiebung der öffentlichen Meinung war, konnte man bei den Nationalratswahlen Ende September beobachten. Die FPÖ-Wähler liefen entweder zur ÖVP über oder haben das Wählen gleich ganz bleibenlassen. Das von Kurz geschmiedete klassenübergreifende Bündnis, das sich über die Schlechterstellung der »Anderen« definiert, musste zwar insgesamt Federn lassen, die ÖVP selbst ist aber mit einem Plus von rund sechs Prozent (von 31,5 auf 37,5 Prozent) unangefochten an erster Stelle. Der italienische Marxist Antonio Gramsci nannte solche Prozesse, in denen es den bisher Herrschenden in einer politischen Krise gelingt, »einen Teil der Antithese sich selbst einzuverleiben (…), um sich nicht aufheben zu lassen«, passive Revolutionen.
Diese Herrschaftsstrategie lässt sich aus einem ÖVP-Strategiepapier aus dem Jahr 2017 herauslesen, das der FALTER dereinst veröffentlichte. Die »alten Parteien«, heißt es da, hätten im Anschluss an die Krise die Führung verloren, das »System« sei verhasst, die Menschen hätten »kein Vertrauen mehr in Eliten«. Die einzige Möglichkeit, in dieser Situation »politisch erfolgreich zu sein, ist eine Position einzunehmen, die diese Stimmung bedient – Anders sein, Anti-Establishment«. Die daraus gezogene Ableitung, Kurz als »höflicheren Strache« zu positionieren, so das Papier wörtlich, ebnete den Weg zu Türkis-Blau und damit zu einem Regierungsprogramm im Interesse der dominanten Kapitalfraktionen.
Auch wenn die Wahlen vom 24. September einen Triumph für Kurz’ ÖVP gebracht haben, ist zumindest die Fortsetzung des rechts-autoritären Staatsprojektes gegenwärtig gefährdet. Die von der FPÖ-Führung noch am Wahlabend wiederholt gemachte Ansage, dass es nun Zeit wäre, sich
in der Opposition neu aufzustellen, scheint mehr als nur taktischer Natur zu sein. Ex-Innenminister Herbert Kickl etwa hat offenbar verstanden, dass die FPÖ aus einer Position der Schwäche die Republik nicht weiter nach ihren Vorstellungen umbauen wird können. Stattdessen soll aus der Opposition heraus ständig daran erinnert werden, dass nur die FPÖ eine türkis-blaue Regierungspolitik ermöglicht hat, die in Umfragen lange bei Zustimmungswerten um die 60 Prozent lag. Die nicht gebrochene rechte Hegemonie soll wieder für die FPÖ nutzbar gemacht, die passive Revolution umgekehrt werden.
Auch eine Koalition mit der SPÖ scheint aus heutiger Sicht nicht sehr wahrscheinlich zu sein. Zu sehr hat Kurz in den letzten Jahren daran gearbeitet, Sozialdemokratie und Gewerkschaften als wesentlichen Teil des »Systems« zu rahmen. Ein Establishment, das er durch »mutige Reformen« überwinden wollte. Eine ÖVP-SPÖ- Koalition wäre daher eine Gefährdung dessen, was Kurz am wichtigsten ist: Die eigene Marke.
Daran würde wohl nur eine Vertiefung und ein starkes Durchschlagen der deutschen Rezession und der schwächelnden Weltkonjunktur auf die wirtschaftliche Situation in Österreich etwas ändern. Dann könnte der SPÖ erneut, wie zuletzt in den Jahren nach 2008, die Rolle der Co-Managerin der Krise zugedacht werden, die größere gewerkschaftliche Proteste verhindert.
Auf den ersten Blick spricht der Kurz’sche Markenkern als Reformer daher für eine Koalition mit den Grünen. Auch die Kräfte hinter Kurz wissen, dass angesichts der Klimabewegung, die zuletzt mehr als sieben Millionen Menschen weltweit auf die Straße brachte, die Zeichen auf Einbindung der »moderaten« Kräfte stehen. So meinte etwa der scheidende VOEST-Chef Wolfgang Eder unlängst, dass die Größe der Bewegung nun Kompromisse erforderlich mache; man müsse »intensiv miteinander reden und eine gemeinsame Linie entwickeln«. Die Idee einer Partnerschaft, die den Kapitalismus begrünt, anstatt ihn zurückzudrängen oder stillzulegen, ist in der gegenwärtigen Konjunktur attraktiv. Für Kurz wäre es eine weitere passive Revolution, in der er eine Herausforderung der alten Herrschaft zu ihrer Erneuerung nutzt.
»DIE IDEE EINER PARTNERSCHAFT, DIE DEN KAPITALISMUS BEGRÜNT ANSTATT IHN ZURÜCKZUDRÄNGEN, IST IN DER GEGENWÄRTIGEN KONJUNKTUR ATTRAKTIV.«
Ob es Kurz allerdings möglich ist, sich in relativ kurzer Zeit ein weiteres Mal neu zu erfinden, um glaubhaft als Kanzler einer türkis-grünen Regierung aufzutreten, ist fraglich. Unbestritten: Er ist sehr flexibel. Schließlich sprach er als Integrationsstaatssekretär noch 2013 unentwegt von der Notwendigkeit einer »Willkommenskultur«, um dann drei Jahre später nach seiner rechtspopulistischen Wende in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt zu meinen, dass die »Migrationskrise« nicht »ohne hässliche Bilder« gelöst werden könne. Doch selbst wenn Sebastian Kurz diese Wendung wollte, so bleibt er doch in den Fängen jener rechten Hegemonie verhangen, die ihm in den Sattel verholfen hat.
Und die Linke? Auch sie wird nur dann erfolgreich sein, wenn sie sich nicht darüber hinwegschummelt, dass die rechte Hegemonie ungebrochen und das rechts-autoritäre Staatsprojekt politisch unbesiegt ist. Es stolperte über sich selbst, anstatt an den Gegenkräften zu scheitern. Die durch die Neuwahlen entstandene Situation bedeutet daher wenig mehr als geschenkte Zeit.
Zeit, die es dazu zu nutzen gilt, die Bewegungen und Umbauprozesse der letzten Jahre weiterzuführen und zu vertiefen. Das erneute Ende der Sozialpartnerschaft etwa zwang die Gewerksschaften zumindest zeitweise zu einer kämpferischen Linie. Den Donnerstagsdemos gelang es, den notwendigen Bruch mit der Stellvertreterinnenpolitik vorzuleben und ein solidarisches Bündnis in die Welt zu setzen. KPÖ und Junge Linke wiederum haben erst heuer den Einzug in den Salzburger Gemeinderat geschafft, selbiges gelang der Alternativen Liste in Innsbruck. Die KPÖ Steiermark hat am 24. November gute Chancen auf einen Weiterverbleib im Landtag. Im Nationalrat werden mit Faika El-Nagashi (Grüne) und Julia Herr (SPÖ) künftig zwei linke und antirassistische Frauen sitzen. Und schließlich hat es die Klimabewegung zustande gebracht, dass eine Gesellschaft jenseits der kapitalistischen Ausbeutung von Mensch und Natur heute weniger als Utopie, sondern als anstehende Überlebensfrage gesehen wird. All diese für sich genommen einzelnen Erhebungen könnten, sollten sie erst einmal zusammenwirken, eine Antithese zum bestehenden Status quo formulieren, die sich nicht mehr reaktionär wenden ließe.
Lukas Oberndorfer arbeitet als Publizist und Wissenschaftler in Wien.
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