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Buchtipps der Redaktion

von Redaktion

Zum Jahresende haben Redakteurinnen und Redakteure des TAGEBUCH eine Auswahl an 2024 erschienenen Büchern zusammengestellt, die sie besonders begeistert haben.


1845 wörter
~8 minuten

René Aguigah: »James Baldwin. Der Zeuge« (C. H. Beck)

Bevor 2024 das Jahr Donald Trumps wurde, war es das Baldwin-Jahr: Am 2. August wäre der US-amerikanische Schriftsteller James Baldwin einhundert Jahre alt geworden. Baldwin schrieb Romane, Essays, Gedichte, Kurzgeschichten und Theaterstücke, hielt Reden und stritt in Fernsehsendungen. Er war charismatisch und eloquent, sein Schreiben schöpfte aus der eigenen Biografie, um zu Einsichten über ein Land zu gelangen, das zugleich »Land of the Free« und weiß und christlich sein soll. René Aguigahs Buch, das erste über Baldwin in deutscher Sprache, zeigt, wie er mit dem amerikanischen Rassismus rang, mit der Gegenwart einer Gewaltgeschichte, die das Öffentliche und das Private, Ökonomie und Psychologie, Staat und Familie einnahm und etwas produzierte, was nicht da sein müsste: Schwarze und Weiße. Als »shoeshine boy« in Harlem aufgewachsen und als schwuler Mann lebend, war Baldwin zudem offensichtlich, dass Klasse, Geschlecht und Sexualität den Rassismus nicht bloß durchkreuzen, sondern in seinem Inneren wirken, um die amerikanische Realität hervorzubringen. Als Schriftsteller wollte Baldwin diese Realität möglichst genau abbilden. Wobei »Realität« nicht bloß die objektiven Umstände umfasst, sondern noch mehr die Gefühle und Leidenschaften. »Die Dinge, die Menschen wirklich tun und wirklich meinen und wirklich fühlen, sind für sie fast unmöglich zu beschreiben«, schreibt Baldwin 1959, »aber das sind genau die Dinge, die an ihnen am wichtigsten sind: Diese Dinge beherrschen sie, und das ist die Realität.«

Baldwin arbeitete sich an einer Realität ab, die ihm gefährlich und zunehmend hoffnungslos erschien, nachdem die Bürgerrechtsbewegung – oder, in Baldwins Worten, der »jüngste Sklavenaufstand« – Ende der 1960er-Jahre niedergeschlagen worden war. Er bewegte sich in Spannungsfeldern, die Aguigahs Buch strukturieren: Zwischen Autor und Aktivist, zwischen Fiktion und Dokumentation, zwischen der partikularen Erfahrungswelt des »American Negro« und dem Begehren nach universeller Befreiung.  Das hinreißende Porträt zeichnet das Bild eines Künstlers, der diese Spannungen nicht nur erträgt, sondern aus ihnen poetische und politische Kraft gewinnt, ohne heroische Pose, gänzlich unsentimental. In einem posthum veröffentlichten Fragment blickt Baldwin zurück: »In America I was free only in battle. Never free to rest. And he who finds no way to rest cannot long survive the battle.« Er starb im Dezember 1987, im Alter von 63 Jahren, an Krebs.

Am 20. Jänner des neuen Jahres wird Donald Trump zum 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten Amerikas gekürt. Dass Baldwins Romane auf Geheiß der MAGA-Republikaner aus Schul- und Universitätsbibliotheken verbannt werden, hat seinen Grund. James Baldwins Werk schließt eine andere Geschichte der USA auf und damit auch den Blick auf eine andere Zukunft dieses verfluchten Landes. René Aguigah bietet einen umsichtigen, schön zu lesenden Einstieg in dieses Werk, den man nicht verpassen sollte. (Benjamin Opratko)

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Otto Bauer: »Der Kampf um Wald und Weide«, hg. v. Lisa Francesca Rail (Mandelbaum)

Der Sozialismus war stets eine politische Bewegung, die in erster Linie mit Industrie, Proletariat und Stadt assoziiert war. Zu den Paradoxien des 20. Jahrhunderts gehört jedoch, dass die wenigen Revolutionen mit sozialistischem Programm gerade dort gelangen, wo die Gesellschaft überwältigend agrarisch geprägt war.

Auf theoretischer Ebene wiederum wurde die Agrarfrage unter sozialistischen Autoren lange vernachlässigt. Während die Positionen von Kautsky, Lenin oder Luxemburg manchen vielleicht noch bekannt sind, ist die ganze Breite der Debatte heute weitgehend vergessen.

Allein schon deshalb ist es ein Verdienst, dass im Mandelbaum-Verlag nun Otto Bauers 1925 erstmals erschienene Schriften Der Kampf um Wald und Wiese neu aufgelegt wurde. Darin legt Bauer nicht nur eine Agrargeschichte von unten vor, sondern setzt auch bemerkenswerte Schwerpunkte: ein besonderes Interesse für die Forstwirtschaft, eine Beachtung kleinbäuerlichen Wirtschaftens, die diese nicht nur als überwindungsfälligen Vergangenheitsrest sieht, sowie eine Betonung der verschiedenen Formen von Allmende, also von gemeinschaftlichen Nutzungsrechten. Dies mündet in ein Agrarprogramm, das eine ungewöhnliche Mischung von agrarischen »Wegen« zusammenführt: Neben der Verstaatlichung von Forsten und Großbetrieben und der Forcierung einer technisierten Landwirtschaft (die typische sozialistische Agrarperspektive der Zeit) sollen auch Genossenschaften etabliert, die Allmende wieder gestärkt und ein Platz für kleinbäuerliche Betriebe geschaffen werden.

Das Besondere an dieser Ausgabe von Der Kampf um Wald und Wiese ist freilich nicht die bloße Wiederveröffentlichung und die Kontextualisierung von Bauers Werk in der Zeit. Die Herausgeberin Lisa Francesca Rail versucht vielmehr, Bauers Gedanken an die jüngeren Diskussionen der agrarischen Linken anzuknüpfen: Es geht um neu oder wieder zu etablierende Commons, um die von der kapitalistischen Landwirtschaft verursachten Probleme (ökonomisch, ökologisch und sozial, aber auch im Umgang mit Tieren), um Ernährungssouveränität und die Überschneidungen von »Gender«, globaler Ungleichheit und Klimakrise. Anknüpfungsmöglichkeiten sieht Rail in Bauers Allmende-Betonung und seinen Überlegungen zu kleinbäuerlichem Wirtschaften. Bauers Festhalten an den Möglichkeiten einer großbetrieblichen und wissenschaftsbasierten Agrarpolitik betrachtet Rail, entsprechend ihrer Via-Campesina-inspirierten Perspektive, als Schwäche. Man könnte aber gerade die Kombination verschiedener landwirtschaftlicher Betriebs- und Nutzungsformen als den attraktiven Kern von Bauers Gedanken erachten.

Eine wirkliche gelungene Wiederveröffentlichung eines vergessenen »Klassikers« linker Theoriebildung, die zeigt, wie man einem solchen durch eine kluge Rahmung neues Leben für aktuellen Diskussionen einhauchen kann. (David Mayer)

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Tove Jansson: »Fair Play« (Kampa)

Tove Janssons Weltberühmtheit für ihre Erfindung der Mumins ist verständlich, weil die Mumins großartig sind, aber sie ist auch bitter, weil man darüber fast vergessen könnte, dass die Finnlandschwedin Jansson als Malerin und Schriftstellerin genauso Bedeutsames und Tiefes geschaffen hat. Von ihrem literarischen Können zeugen prominentere Buchbeispiele wie das Sommerbuch, aber auch und gerade das heuer neuaufgelegte Fair Play, ein schmaler Roman über das Leben zweier Künstlerinnen.

In Zeiten, als Autofiktion nicht gerade en vogue war, hat Jansson häufig all ihr Leben in ihre Literatur gesteckt – allerdings so verklausuliert, so fragmentarisch und frei, dass der Gradmesser stets in Richtung Fiktion ausgeschlagen hat. Auch ihr Roman Fair Play ist ganz unmissverständlich geprägt von dem Leben, das sie mit ihrer Partnerin, der Künstlerin Tuulikki Pietilä, geführt hat: in den durch den Dachboden verbundenen Atelierwohnungen in Helsinki; in der Sommerresidenz auf der kleinen, kargen Insel, die auf den zweiten Blick voll Wunder und Freiheit war; auf Weltreise im hohen Alter. Immer wieder scheint dabei der gemeinsame Alltag durch. Aber kein Tag ist gewöhnlich, wenn man mit solcher Neugier und so entschlossener Verwundbarkeit durchs Leben geht wie die Romanfiguren, selbst ein Filmabend wird zelebriert. Die Schriftstellerin Mari und die Grafikerin Jonna, Hauptfiguren des Romans, verkörpern eine geistige Freiheit, wie man sie selten erlebt – als Künstlerinnen setzen sie sich immer wieder auch mit der eigenen Arbeit auseinander. So wird eine Gemeinschaft unter Frauen gezeigt, die in ihrem queeren Selbstverständnis fast utopisch ist. Nicht obwohl, sondern weil sie auch streiten – und manchmal die Einsamkeit brauchen, um ihr je eigenes, durchaus unterschiedliches Werk anzugehen. Hier werden also zwei Leben erzählt, nicht von Anfang bis Ende, aber über eine große Zeitspanne hinweg. Es sind gerade die Auslassungen, die den Roman – obwohl er ohne dramaturgische Zuspitzung oder klassische Spannungsbögen auskommt – so packend machen. Die einzelnen Episoden könnten beinahe für sich stehen. Manchmal enden sie abrupt: so wie man manchmal Tagebuchaufzeichnungen abbricht, schlicht weil das Leben mehr Aufmerksamkeit verlangt als die Reflexion.

Fair Play wirkt streckenweise wie ein Geschwisterbuch zu den Aufzeichnungen Janssons und Pietiläs von der Insel Klovharu, wo sie ihr Sommerhaus gebaut und bewohnt und die sie schließlich, im hohen Alter, in einem konsequenten Abschiedsakt für immer verlassen haben. Auf Englisch ist dieses Buch als Notes From an Island erhältlich, und es wäre doch zu schön, gäbe es auch hiervon bald eine Übersetzung ins Deutsche. (Jana Volkmann)

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Antonio Scurati: »Faschismus und Populismus« (Klett-Cotta)

Der Italiener Antonio Scurati hat sich in den letzten Jahren einen Namen als Autor der international erfolgreichen, vierteiligen Romanreihe M über Benito Mussolini gemacht. Zunehmend tritt Scurati als öffentlicher Intellektueller, der u. a. das politische Zeitgeschehen kommentiert, in Erscheinung. Davon zeugt auch sein jüngster Essay Faschismus und Populismus. Er basiert auf einer Rede, die Scurati wenige Tage nach dem Sieg Giorgia Melonis bei der italienischen Parlamentswahl im Herbst 2022 gehalten hat. Der Tonfall ist entsprechend betroffen, der Sprachgewalt und analytischen Präzision tut das jedoch keinen Abbruch. Scurati skizziert den »Duce« nicht nur als Erfinder des Faschismus, sondern auch als Vater des »souveränistischen Populismus«. Heutige antidemokratische politische Führer müssten dementsprechend als Nachfahren des populistischen Benito Mussolini betrachtet werden. Mit Verweis auf die faschistischen Schwarzhemden betont Scurati: »Der künftige Duce hat Italien verführt, während seine Kampfhunde über es herfielen.«

Den Merkmalen des Populismus widmet Scurati ein eigenes Kapitel; sie umfassen autoritäre Personalisierung, antiparlamentarische Polemik, Führen durch Nachfolgen, Verwandlung von Angst in Hass, Vereinfachung und Kommunikation mit dem Körper. Bei Letzterem stehe nicht so sehr die Ästhetik im Vordergrund, sondern die mit dem Körper betriebene Kommunikation diene als Gegenpol zur intellektuellen, oft körperlos anmutenden Auseinandersetzung. So rücke der Körper »in die Unfasslichkeit, Unerreichbarkeit und Undurchschaubarkeit« – man könne ihn folglich nur noch verehren oder ihn hassen und töten.

So gelungen die Verknüpfung von rezenten mit historischen Phänomenen des Politischen, so enttäuschend gerät das Ende. Wenn der Autor im Anschluss an seine Ausführungen doch tatsächlich für einen unideologischen Antifaschismus plädiert, möchte man ihm seine eigene brillante Analyse noch einmal zur Lektüre empfehlen. (Sonja Luksik)

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Ann-Kristin Tlusty und Wolfgang M. Schmitt (Hg.): »Selbst schuld« (Hanser)

An einem Missstand, einer Krise selbst schuld zu sein sei die »Grundideologie unserer Zeit«, so die Journalistin Ann-Kristin Tlusty und der Kulturkritiker und Podcaster Wolfgang M. Schmitt im Vorwort zu ihrem Sammelband Selbst schuld!. Die Idee der eigenen Schuld hat ja in der Religion eine lange Tradition. Spätestens der Neoliberalismus hat laut Tlusty und Schmitt aber eine säkularisierte Form des Schulddiskurses entwickelt, die heute sämtliche Lebensbereiche präge: von der Selbstoptimierung (Social-Media-Trend Morgenroutine) über die Arbeitswelt (»Wer in Armut lebt, strengt sich nicht genug an«) bis hin zur Klimakrise (ökologischer Fußabdruck).

Die Zuweisung der Schuld ans Individuum lenkt jedoch von größeren Zusammenhängen und eigentlich verantwortlichen Akteuren ab – dies kritisiert der Sammelband aus dreizehn verschiedenen Blickwinkeln und zerpflückt die je dahinter steckenden Narrative und Motive. Die Texte variieren in ihrem Stil: mal erzählend, mal journalistisch, mal eher fachlich. Wie oft bei Sammelbänden, kann nicht jeder Beitrag überzeugen, manche Abschnitte bieten wenig Neues – welche Verachtung gegenüber Armen in vielen Politikerreden und Zeitungsartikeln zum Ausdruck kommt, ist beispielsweise schon hinreichend dokumentiert worden.

Dennoch überzeugt Selbst schuld! durch eine sehr stimmige Komposition, durch Vielfalt der Perspektiven und durch Scharfsinnigkeit. Herauszuheben sind: Matthias Ubls Appell, gesellschaftliche Probleme weniger anhand des vermeintlichen Generationenkonflikts (»die Gen Z« gegen »die Boomer«), sondern anhand des Klassenkonflikts zu debattieren; Özge İnans Beschreibung der Folgen des Schulddiskurses im Kontext sexualisierter Gewalt, hinsichtlich psychischer Reaktionen der Opfer oder juristischer Aufarbeitung der Taten; und Anke Stellings (übrigens Autorin des Theaterstücks Selber schuld – Katapult) autofiktionaler Rückblick auf die Jahre vom Kind zur Mutter. (Jannik Eder)

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