Nachhall eines diasporischen Lebens

von Benjamin Opratko

472 wörter
~2 minuten
Nachhall eines diasporischen Lebens
Stuart Hall
VERTRAUTER FREMDER Ein Leben zwischen zwei Inseln
Argument, 2020, 306 Seiten
EUR 37,10 (AT), EUR 36,00 (DE), CHF 45,30 (CH)

Weltweit hat die Linke kaum einen vergleichbar vielschichtigen Intellektuellen hervorgebracht wie den 2014 verstorbenen Stuart Hall. Aktivist und Publizist der britischen Neuen Linken – Hall war Gründungsherausgeber der New Left Review –, die sich im Krisenjahr 1956 neue politische Räume jenseits von Stalinismus und Sozialdemokratie ertrotzte; Gründervater der Cultural Studies, die vom Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies aus Weltbedeutung erlangten; Theoretiker der Mechanismen von Rasse und Rassismus, Ethnizität und Identität; postkolonialer Denker; scharfsinniger Analytiker des Neoliberalismus, dessen britischer Ausprägung er den Namen Thatcherismus verlieh. 

Nun liegt mit Vertrauter Fremder ein Buch in deutscher Übersetzung vor, das in seiner ungewöhnlichen Form und Entstehungsgeschichte nicht typischer für den unorthodoxen Denker sein könnte. Sein Ursprung liegt in Transkripten von Erinnerungen, die Hall Ende der 1990er Jahre im Gespräch mit seinem Freund Bill Schwarz teilte, gedacht zur Veröffentlichung in einer Zeitschrift. Das Material entwuchs bald den Möglichkeiten dieses Formats, zumal Hall es über knapp zwei Jahrzehnte immer weiter überarbeitete, ergänzte, umordnete. Zugleich wollte der uneitle Hall daraus keine Memoiren im herkömmlichen Sinn machen, wie Schwarz im Vorwort erklärt. Mit fortschreitender Krankheit bot ihm die Arbeit an dem Manuskript aber die Gelegenheit, im Blick zurück dem eigenen Werk eine letzte Facette hinzuzufügen. Das Ergebnis ist ein hinreißender Text, der auf einnehmende Weise Autobiografie, Sozialgeschichte, Theoriediskussionen und Kulturkritik miteinander verstrickt. Das Buch erzählt die Vorgeschichte des öffentlichen Intellektuellen Stuart Hall, von seiner Kindheit im kolonialen Jamaika über das durch ein Rhodes-Stipendium ermöglichte Studium in Oxford bis zu den Anfängen seines politischen Aktivismus in England Mitte der 1950er Jahre. Hall beleuchtet seine ersten Lebensjahrzehnte »zwischen zwei Inseln«, die Formierung seiner eigenen »diasporischen« Identität und den Transit vom »letzten kolonialen Subjekt« zur postkolonialen Kondition. Wie er dabei seine eigene Coming-of-Age-Story mit historischer Gesellschaftsanalyse verbindet, Politisches und Psychologisches, Subjektives und Objektives aufeinander Bezug nehmen lässt, ist außergewöhnlich gut gelungen. Hall verknüpft familiäre Konflikte und jugendliche Wirrungen, eigene Zweifel und Sehnsüchte, sein Unbehagen in der Kultur in Jamaika wie in Britannien immer wieder virtuos mit den Verhältnissen von Klasse, Race, Geschlecht. Das Buch demonstriert mit charmantem Schmelz im Ton die analytische Kraft einer in Hörweite des Marxismus operierenden Kulturstudie. Es möge lesen, wer sich mit theoretischen Fragen zu Rasse und Rassismus, Modernität und Fortschrittsdiskurs, kolonialer und postkolonialer Herrschaft befassen will. Es ist aber ebenso jenen zur Lektüre empfohlen, die etwas über Jamaika vor und nach der Unabhängigkeit, über das Nachkriegs-Oxford, über Jazz und postkoloniale Literatur, über die Entstehung der New Left Review oder die Erfahrungen »westindischer« Migrantinnen und Migranten der »Windrush«-Generation in England erfahren wollen. Und allen, die Stuart Halls Werk bereits schätzen ebenso wie jenen, die es noch entdecken wollen.

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