Die Last der Mitschuld

von David Mayer

An dieser Stelle dokumentieren und kontextualisieren wir Beiträge aus fast fünf Jahrzehnten TAGEBUCH. Diesmal: ein Gedicht der Schriftstellerin Susanne Wantoch, veröffentlicht nach der Niederschlagung des Ungarnaufstands im Jahr 1956.


375 wörter
~2 minuten

Ende 2018 erschien im Krefelder Pirmoni-Verlag – und unter Ausschluss der literarischen Öffentlichkeit – eine Neuausgabe der Novelle Nan Lu. Die Stadt der verschlungenen Wege, mit der die Schriftstellerin Susanne Wantoch 1948 debütiert hatte. Als Susanne Eisenberger 1912 im slowakischen Trenčin geboren und in Linz aufgewachsen, war sie 1938 mit ihrem Mann, dem Arzt Arno Theo Wantoch, von England aus nach China aufgebrochen, wo sie in den befreiten Gebieten als Krankenpflegerin und Sprachlehrerin arbeitete. Nach Arno Theos frühem Tod, im Dezember 1945, kehrte sie nach Österreich zurück und schrieb für das TAGEBUCH, die Stimme der Frau und die Österreichische Volksstimme. Ihr Gedicht ist Ausdruck der Krisenstimmung nach Chruschtschows Enthüllungen am XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 sowie des Ungarnaufstands und seiner Niederschlagung im Herbst desselben Jahres, in dem die KPÖ ein Drittel ihrer Mitglieder verlor. Wie schwer Wantoch Die Last der Mitschuld wurde, erweist sich an ihrem späteren Schicksal: Anfang Juli 1959 brach sie – offenbar in der Absicht, sich dort das Leben zu nehmen – zu einer Wanderung ins Raxgebiet auf. Ihre sterblichen Überreste wurden erst fünf Jahre später gefunden.

Die Last der Mitschuld

Auch der Haß gegen die Niedrigkeit – sagte Bert Brecht – 

verzerrt die Züge.

Wenn aber der verzerrte Haß selbst in Niedrigkeit um-

schlägt?

Auch der Zorn über das Unrecht – sagte Bert Brecht – 

macht die Stimme heiser.

Wenn aber der Zorn so heiser wird, daß er das Unrecht 

nicht mehr übertönt?

Während wir mit Entzücken und Ehrfurcht

den Sieg der weisen Genossen feierten,

welche, jahrtausendealten Schutt wegräumend,

Dschun-Go, das Reich der Mitte,

zu einem wohnlichen Haus für alle umbauten,

häufte sich vor unseren nicht sehenden Augen tragische

Schuld.

Und der Zorn über das Unrecht ward heiser und schwieg.

Ach, wir erkannten zu spät:

Weil der Feind von Gewalttat und Blut trieft,

ist der Freund nicht unfehlbar.

Weil die schleimige Heuchelei falscher Gerechter zum 

Himmel stinkt, 

wird die halbe Wahrheit in unserem Munde nicht rein.

Die Unzucht der Priester

konnte Gottes Bild nicht verdunkeln.

Über das Wüten der Inquisition

siegte der gekreuzigte Heiland.

Wieviel Jahrhunderte brauchten Päpste und Kaiser,

um die Kunst des Regierens schlecht zu erlernen?

Doch die Last der Mitschuld

nimmt kein Heil’ger mir ab.

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