»Zwischen meinem elften und meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr wurde ich von einer Medizinfrau zur nächsten, von einem Medizinmann zum nächsten geschleppt. Sooft ich mich in ein Mädchen verschaute, sooft ich es unterließ, meinen Schwestern zu versichern, wie toll es sei, mit Männern ins Bett zu gehen, sooft ich gegen die Stammessitten verstieß – schon wurde ich wieder in eine Quacksalberei gebracht«. Diese Sätze stammen aus dem bedrückenden Zeugnis einer lesbischen Frau in Äquatorialguinea, das Trifonia Melibea Obono in ihrem Buch Yo no quería ser madre. Vidas forzadas de mujeres fuera de la norma aufgezeichnet hat. Erich Hackl hat das testimonio, eines von 30, für uns übersetzt (Seite 42) und die Schriftstellerin und Queer-Aktivistin zum Interview getroffen (Seite 46). Unmittelbarer Anlass dafür war, abgesehen vom hierzulande notorischen medialen Desinteresse am afrikanischen Kontinent, der für Mai geplante Wien-Besuch Obonos. Die 10. Woche der äquatorialguineischen Literatur, in deren Rahmen die Schriftstellerin ihren Roman Wem gehören die Bindendee? Ein afrikanisches Idyll vorstellen hätte sollen, musste allerdings aufgrund der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus verschoben werden. Ein weiterer Anlass, diesen Text ins Blatt zu rücken, bleibt indes: der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie, der seit 2005 jedes Jahr am 17. Mai begangen wird. 

Seinen Besuch in Klagenfurt musste auch Karsten Krampitz absagen. Eigentlich hätte der Berliner Historiker und Schriftsteller dort am 29. April im Rahmen einer Ringvorlesung den Text Der einzige Antifaschist in Kärnten ist eine Linkskurve in Lambichl lesen sollen. Doch der Vortrag musste, wie so vieles in diesen Tagen, vom öffentlichen in den virtuellen Raum verlegt und statt im Hörsaal online gehalten werden – wir bringen einen Auszug (Seite 35).

Die Wochen der physischen Distanz haben uns unterdessen dazu bewogen in dieser Ausgabe in gestalterischer Hinsicht Neuland zu betreten. Im Gegensatz zu allen bisherigen Heften haben wir in diesem auf aktuelle Fotografien gleich ganz verzichtet. Zu verdanken ist die Ausnahme (versprochen!) im Ausnahmezustand nicht zuletzt unserem Illustrator Christoph Kleinstück, der die Woche bis zum
Andruck dieser Ausgabe buchstäblich durchgearbeitet hat. Eine Anstrengung ganz ähnlicher Art hat sich in unserer Titelgeschichte materialisiert. Während sich Menschen rund um den Erdball gegenwärtig in der Corona-Krise einrichten (müssen), wollten wir wissen, wohin wir steuern, wenn sich ihre Auswirkungen erst einmal entfaltet haben. Was haben die Wochen und Monate des Lockdown an Erkenntnis gebracht? Welche Lehren lassen sich für das gesellschaftliche Leben, für die Organisierung von Arbeit und Wirtschaft ziehen? Antworten darauf geben die Depeschen der scharf beobachtenden (und von uns hoch geschätzten) Denkerinnen und Denker Sandro Mezzadra, Emma Dowling, Doug Henwood, Maristella Svampa, Vijay Prashad, Tithi Bhattacharya, Darko Suvin und Jodi Dean (Seite 16). Letztere schreibt in ihrem Beitrag: »Schon vor der Corona-Pandemie waren die vom Klimawandel befeuerten neo-feudalen Tendenzen des Kapitalismus deutlich geworden. Nun ist die Entscheidung, die vor uns liegt, ist der Kampf, der zu führen ist, nicht mehr zu leugnen: Gleichheit und Zentralisierung oder Hierarchie und Fragmentierung; Koordination oder Chaos; Kommunismus oder Neo-Feudalismus.« Der konkreten Utopie stehen freilich mächtige Gegner im Weg: an privates Eigentum geknüpfte Produktion, staatlich monopolisierte Gewalt und von jeweils beiden gleichermaßen alimentierte öffentliche Meinung. Was Letztere betrifft hat die österreichische Bundesregierung bereits Vorkehrungen für die reibungslose Rückkehr zum Status quo ante getroffen. Ihre Corona-Medienförderung stützt zwar Tages- und Wochenzeitungen (vom Boulevard bis zu rechtsextremen Hetzblättern aus dem Umfeld der FPÖ) und private Fernsehkanäle (in der Einflusssphäre Silvio Berlusconis), nicht aber Zeitschriften wie die unsere. Schon in unserer letzten Ausgabe haben wir Sie daher um Ihre Unterstützung gebeten. Für jede einzelne Spende, jedes verschenkte und jedes gezeichnete Abonnement möchten wir uns ganz herzlich bedanken. Mit dieser Ausgabe, deren Vertrieb in Deutschland und in der Schweiz wir aus Kostengründen aussetzen müssen, möchten wir Sie erneut bitten: Helfen Sie mit, das TAGEBUCH durch die kommenden Monate zu tragen. Es wird, davon sind wir überzeugt, mehr gebraucht denn je.

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