Von der Reife der Zeit

von Karl-Heinz Dellwo

Illustration: Christoph Kleinstück

Niemand weiß, wann eine Situation eine revolutionäre Situation ist. Lieber einmal zu schnell auf sie setzen, anstatt sie zu verpassen. Zum 50. Jahrestag der Gründung der Roten Armee Fraktion.


2688 wörter
~11 minuten
© Daryl William Collins

Als ich vor einem Jahr einen anderen Kombattanten der 1998 aufgelösten Roten Armee Fraktion (RAF) darauf ansprach, dass sich 2020 die RAF-Gründung zum 50. Mal jähren wird, war er überrascht. Daran hatte er noch nicht gedacht. Warum ist das so? 50 Jahre können eine lange Zeit sein. 1970 war ich 18 Jahre alt. Das halbe Jahrhundert davor war für mich unendlich weit entfernt, eine vergangene, andere Zeit. Die Verbindung dahin, die normalerweise über Generationen weitergegeben wird, existierte nicht. Die Generationen, die etwas hätten weitergeben können, schwiegen lieber. Wir wussten als Kinder und Jugendliche kaum etwas von dem, was 50 Jahre zuvor geschehen war; das, was wir wussten, war meist verlogen, die Wahrheit musste gegen die Mehrheitsmeinung der Gesellschaft von uns selbst herausgefunden werden. 

In diesen fünf Jahrzehnten war unendlich viel passiert: die Massaker des Ersten Weltkriegs, der Verrat der Revolution in Deutschland durch die SPD-Führung, Weimar, die Weltwirtschaftskrise, zwölf Jahre Großdeutsches Reich – weltgeschichtlich ein kurzer Moment, tatsächlich aber mit Auschwitz ein Ereignis, das noch 1000 Jahre einen Bezugsrahmen für alles Barbarische darstellen wird; dann die Nachkriegsperiode, bestimmt von Restauration und der Fortsetzung des Kommunistenhasses, der Kalte Krieg, Vietnam und zuletzt der weltweite antikoloniale Widerstand und die Jugendbewegungen. Warum erscheinen uns demgegenüber die eigenen 50 Jahre, mehr als die Hälfte des eigenen Lebens, heute als kurze Zeitspanne? Weil wir die RAF und den Bruch in uns nicht verloren haben? Weil es im Erleben unserer eigenen Gesellschaft keinen Systembruch gab wie 1918, 1933 und 1945, der Kapitalismus sich fortsetzte und der Zusammenbruch des Realsozialismus ein äußeres System betraf? Weil der globalisierte Kapitalismus nach dem Untergang des Staatssozialismus alle Orte und alle Zeit besetzt? Weil Ort und Zeit im Leben an Bedeutung verloren haben?

Vor einem Jahr hätte ich die Frage, ob die Erinnerung an die Gründung der RAF im Jahr 1970 anachronistisch ist, noch eindeutig verneint. Jetzt, im Zeitenbruch von Corona, in der Zeit eines Shutdowns, den keine revolutionäre Bewegung sich erträumt hätte, habe ich Zweifel. Die Gründung der RAF kann man wie ich als Versuch sehen, den sich abzeichnenden Abbruch der 1968 begonnenen Befreiung nicht zu akzeptieren, dem Aufbruch eine Zukunft geben zu wollen, diese Zukunft gar zu erzwingen. Die große kollektive Energie hatte sich im Laufe von 1968 erschöpft. Ein Abwenden begann, wenn auch unter Hochhalten des Bekenntnisses, nichts preisgeben und systemoppositionell bleiben zu wollen. Auch Rudi Dutschke wollte das Land verlassen und nach Südamerika gehen – und wurde wenige Tage davor niedergeschossen. Die Zeichen waren unübersehbar und das Gehäuse des Systems zu geschlossen, als dass der Glaube und der Wunsch, die Leichtigkeit der Revolte wirkungsmächtig beizubehalten, hätten überzeugen können. 

Die Generationen, die ihre Machtpositionen in der Gesellschaft wieder eingenommen hatten, waren kriegserfahren und gewaltbereit. Aus Gewohnheit, aber auch, weil sie die Bedrohung überschätzten. Das kam aus ihrem Wissen über die von ihnen begangenen Verbrechen – und ihrer Haltung, dass man der neuen Generation nicht verzeihen konnte. Sich selbst aber hatten sie verziehen. Die Überschätzung der Bedrohung enthielt das Wissen von der Wahrheit über sich selbst. Eine Gemeinschaft des Abschlachtens, eine Gesellschaft von Dieben, Räubern und Henkern, die sich zur Rechtfertigung ihrer Handlungen als superior imaginierten. 

Dagegen konnte der »Sommer der Anarchie« tatsächlich nur kurz sein. Aber die Erfahrungen daraus waren da und wie immer blieben jenseits der Mehrheit Minderheiten, denen es unerträglich war, das Auflösen einer Lebensgrundlage zu akzeptieren, in der sie im Verlauf des Aufbruchs zu sich selbst gekommen waren. Wer will in das geschlossene Gehäuse zurück, nachdem er gesehen hat, dass es real eine andere Welt zu entdecken gibt? Die bewaffnete Aktion war möglich, weil der Bruch mit dem Bestehenden schon vollzogen war oder sich im Vollzug befand. Der Gedanke und die Haltung hatten sich längst radikalisiert. Beides auf eine nächste Stufe zu heben, entsprang dem Bewusstsein, ansonsten alles zu verlieren und weiter chancenlos mit dem Alten konfrontiert zu sein. Wir waren mit dieser Gesellschaft schon fertig, bevor wir zur Aktion übergingen. Es war geplant und gleichzeitig ein Geschehen. Es gründete auf Erkenntnis über das, was war, nicht auf Erkenntnis über das, was irgendwann aus allem werden sollte. Wir wissen immer zwei Dinge, wenn wir wahr vor uns sein wollen: das, was wir nicht wollen, und das, was wir nicht sind. Das ist notwendige Grundlage jedes Emanzipationsbestrebens. Wir wollen nicht die Herrschaft und nicht unsere Instrumentalisierung, und wir wissen, dass wir keine befreiten Menschen sind. Das eine ist abzuwerfen, das andere zu erreichen.

Die Geburtsstunde der RAF war der 14. Mai 1970. Es ging darum, aus der Revolte zum Bruch zu kommen, die Verwerfung des Bestehenden unwiderruflich in die Geschichte einzuschreiben. Diese Entscheidung, gleichgültig, ob sie als vermessen definiert wird oder nicht, hatte etwas, was allen anderen Reaktionsmustern aus 1968 weit voraus war: jenes Moment an Wahrheit, das auf der einfachen Tatsache basierte, dass es keine zwei grundsätzlich gegensätzlichen Lebens- und Gesellschaftsvorstellungen auf einem Terrain geben kann. Wer den Kapitalismus und seine Zurichtung zur Produktions- und Konsummonade nicht wollte, musste den Kampf beginnen. Einen Kampf, in dem es um alles gehen und der das ganze Leben in die Waagschale werfen sollte: »Zieh den Trennungsstrich, jeden Tag, jede Stunde und jede Minute!« Die RAF, wahrscheinlich ohne es in der ganzen Dimension zu begreifen, begann hier – wie woanders beispielsweise die Brigate Rosse – als Gegensouverän aufzutreten. Das ist die Aufgabe jeder revolutionären Bewegung.

»WIE SO OFT TRITT DER HEROISMUS DORT AUF, WO DIE ZEIT NOCH NICHT HERANGEREIFT IST. DAS IST DIE STUNDE DER AGITATOREN, NICHT DIE DER GESCHICHTE. DIE BESCHRÄNKUNGEN DER FEHLEN- DEN REIFE DER ZEIT, DIE IHRE ABBILDUNG IN UNS HAT, KONNTEN WIR NICHT ÜBERWINDEN.«

Das erste »Außen« gegen die Welt des Kapitalismus war mit der Oktoberrevolution 1917 gesetzt. Sie ist, in einer hier notwendig verkürzten Darstellung, im erzwungenen Staatsaufbau eingefroren, und hat – bei allen berechtigten Hinweisen auf feindliche und existentiell bedrohliche Angriffe von außen und den Zwängen eines nachholenden Aufbaus einer der Entwicklung der Zeit entsprechenden Produktionsstruktur zur ausreichenden Versorgung der gesamten Bevölkerung – nie eine eigene Wärmequelle produziert, die das Bedürfnis der Menschen nach einem guten Leben und einer erlebbaren Subjektstellung in ihrer Epoche hätte ergreifen und vereinen können. 

Angesichts dieser Erstarrung war ein Neuaufbruch notwendig. Da er aus dem Realsozialismus nicht mehr zu erwarten war, musste er unabhängig davon entstehen und sich doch auf das beziehen, was die Oktoberrevolution in die Welt gesetzt hatte. Alle Bewegungen der sechziger Jahre gründeten auf den geschichtlichen Wellen der Oktoberrevolution. Sie war ein wahrhaft historisches Ereignis. Diese Verschränkung von Ablehnung und Verbundenheit gegenüber dem aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Realsozialismus erklärt vielleicht die tiefe Depression, in die die westliche Linke versunken ist, nachdem mit dem offiziellen Zerfall des Realsozialismus 1989 der Bruch in der Geschichte der kapitalistischen Vergesellschaftung der Welt zurückgenommen zu sein schien. Das zwang diese Linke – oder die Reste dieser alten Neuen Linken – die Größe der geschichtlichen Aufgabe wahrzunehmen. Und genau da brach alles weg. Es markiert das endgültige Scheitern aller bisherigen politischen Konzepte und fordert uns auf, uns von den Aufhebungsvorstellungen des 20. Jahrhunderts endlich zu verabschieden.

Es sollte aus den weltweiten Aufbrüchen der sechziger Jahre heraus ein neues, ein »zweites« gesellschaftliches Außen entstehen. Dieses »zweite Außen« war im Gefolge der globalen Antikolonialisierungsbewegungen mit einem neuen Antikapitalismus und Antiimperialismus in der westlichen Jugendbewegung in den Metropolen des Systems angekommen. Es errang im Sturz von scheinbar unangreifbaren Überbaunormen des Systems einen Realitätsgehalt, der für alles die Türen öffnete, nach einiger Zeit jedoch in der gesellschaftlichen Relevanz jenseits von veränderbaren Erscheinungen auf der Stelle trat. Das war für viele der uneingestandene Abbruch der Revolte. Und es waren die bewaffneten Gruppen, die den Widerspruch zwischen dem Aufscheinen einer anderen Welt und dem Zweifel an der eigenen Kraft als Problem aufgriffen: zweifellos ein heroisches Unterfangen, weil es stark auf die Überzeugung durch die subjektive Entscheidung setzte. Wie so oft tritt der Heroismus dort auf, wo die Zeit noch nicht herangereift ist. Das ist die Stunde der Agitatoren, nicht die der Geschichte. Die Beschränkungen der fehlenden Reife der Zeit, die ihre Abbildung in uns hat, konnten wir nicht überwinden. Aus 68 kam schon die Erfahrung, dass die Veränderung im Gegenkulturellen noch keinen Stich macht in der Frage des herzustellenden Gegengesellschaftlichen. Der Kapitalismus übersteht die Veränderungen im Überbau nicht nur, er kann sie sogar für seine Selbstmodernisierung nutzen und die Akteure des Gegenkulturellen noch tiefer in seine Verwertungsmaschinerie hineinziehen. Die bewaffneten Gruppen, die genau aus diesem Grund den Angriff auf das Ganze ausdehnen und eine Ebene erreichen wollten, an der die Integrationsmacht des Systems endet, kamen an die Basiskategorien des Kapitalismus nicht heran. Sie konnten, wie gegen den Kriegsimperialismus in Vietnam, eine politisch bestimmte Gegenmoral setzen, die auch ihre Akzeptanz fand, aber gegen die Normalität einer Welt aus Konsumorientierung und Ausbeutung erreichten sie damit nichts. Nach dem Rückzug der offen aggressiven imperialistischen Position in den 1970er Jahren konnten sie das inhaltliche Verlangen des Gegengesellschaftlichen nicht darstellen. Dieses umfassende Verlangen kann von einer Minderheit auch nicht befriedigt werden. Es kommt aus der Kulmination eines Geschichtsprozesses, der alles Bisherige verwirft. Die Akteure, die fast schon verzweifelt am Umsturz des Ganzen festhielten, fanden nach dem Ende des Kriegsimperialismus nur noch in den gegenstaatlichen Aktionen eine reale Vermittlung zu minoritären Teilen der Gesellschaft. Sie agierten nicht in einem offenen Legitimationsdefizit des Systems, sondern im Legitimationsdefizit des Staates. Damit sind sie aber nur zur gegenstaatlichen Kraft geworden, pointiert gefasst zum »Gegenstaat«. Wer sich an die damalige innenpolitische Situation erinnert, erinnert sich auch daran, dass in Stammheim die Gefangenen in bestimmten Fragen fast so etwas waren wie eine Gegenregierung. Auch an ihnen ging nichts vorbei.

Während es 1968 also nicht gelang, das Gegenkulturelle in das Gegengesellschaftliche zu transformieren, so scheiterten die bewaffneten Gruppen daran, ihre Begrenzung auf das Gegenstaatliche zu überwinden, es also in das Gegengesellschaftliche zu überführen. Das kennzeichnet die 1970er Jahre: Angriffe auf den Staat als Angriffe auf das vermeintliche Machtzentrum des Systems. Das aber war dort nicht zu finden. Am Ende mussten die bewaffneten Akteure die Flucht nach vorne antreten, um im Versuch der Überrumpelung des Feindes ihre historische Schwäche wettzumachen.

Ich habe Zweifel daran, dass es zu Anfang ein klares Bewusstsein darüber gab, dass Gegenstaatlichkeit und Gegengesellschaftlichkeit keine Ebenen sind. Dass man von der einen nicht wie von selbst zur anderen kommt. Ich hatte dieses Bewusstsein jedenfalls nicht. Entscheidend war die Verachtung des Bestehenden, in dem sich das Leben der Menschen zum Anhängsel einer falschen Welt verflachte. Und entscheidend war für mich der subjektive Faktor, bestimmt von jenem Voluntarismus, dass die anderen nicht kämpfen werden, wenn man es nicht selber macht. Dass dieser Kampf geführt werden muss, war fraglos. Das hat im Nachhinein vielleicht weniger mit der geschichtlichen Möglichkeit zu tun als damit, dass in der bestehenden Gesellschaft für uns weder Haus noch Nische war. Wir wollten nicht schon in unserer Jugend unser Leben aufgeben.

Der Versuch, den Abbruch der Befreiung aus 1968 doch noch in eine neue Gegenbewegung zu überführen, führte 1977 zu einer militärischen Eskalation. In dieser standen sich auf einmal nur noch Staat und die Guerilla als losgelöste Gegenmacht gegenüber – auch wenn Letztere sich qua Selbstdefinition als kämpfendes Kollektiv gesehen hat, das sich in einer großen neuen Bewegung auflösen oder verlieren sollte und keine Staatsmacht erobern wollte. Das Verfangen des Kampfprozesses in der Machtlogik ist das, was die damalige Staatsregierung nicht nur einigermaßen regeln, sondern auch für sich nutzen konnte. Im Legitimationsdefizit des Staates aufgebrochen, das begründet war aus seiner faschistischen Vergangenheit, aus seiner in die neue Gesellschaft übertragenen autoritären Struktur und der Beteiligung an den neuen Verbrechen wie dem Vietnamkrieg, mündete die Auseinandersetzung im Herbst 1977 darin, dass der Staat sich zum ersten Mal seit seiner Gründung mit einer aktiven Identifikation der Gesellschaft bestätigen konnte. Die hatte ihm gefehlt. Seine Gründung entstammte nicht einem Widerstandsakt gegen den vorherigen nationalsozialistischen Staat, sondern war von den Siegermächten, von den westlichen Alliierten bestimmt worden. Nun konstituierte er sich selber im Kampf gegen einen inneren Feind, der das ganze System in Frage stellte. Für diesen Konstituierungsprozess opferte die ökonomische und politische Klasse Hanns Martin Schleyer und legte der Bevölkerung mit der Weigerung, die entführten Flugzeugpassagiere der »Landshut« auszutauschen, das mögliche Opfer von fast 90 Menschen auf. Es wurde zum gemeinsamen Bekenntnis zu Staat und bürgerlicher Gesellschaft, unter der Hand auch zum Bündnis zwischen Kapital und Arbeit gegen die Insurrektion. In der der Bevölkerung abverlangten Opferbereitschaft, die als Postulat einer klassenübergreifenden Gemeinsamkeit verlogen und nur im Ausnahmezustand, nur im Überschuss emotionaler Identifikation zu aktivieren war, gründete sich die BRD neu und öffnete die Tür für eine inzwischen integrationswillig gewordene, einstmals systemoppositionelle Linke.

Nüchtern oder trostlos kann man sagen, die Revolution als Umsturz einer historischen Periode ist nichts, was Individuen oder Gruppen, egal wie groß sie sind, produzieren können. Che Guevara scheiterte in Bolivien. Die Brigate Rosse, um ein Vielfaches größer als die RAF, endete mit der Moro-Entführung und dem »Angriff auf das Herz des Staates« ein Jahr nach der RAF in der gleichen Situation: als stellvertretende Klassenkampforganisation gegen den Staat – und verlor damit ihre zuvor noch vorhandene politisch-moralische Akzeptanz.

Die Revolution ist ein Ereignis, ein Geschehen, eine geschichtliche Kulmination, die alle zwingt, Herrschende wie Beherrschte gleichermaßen. Alle werden etwas Mächtigerem unterworfen. Die Aufbrüche, die Revolten, und auch die in unserer Zeit, die Versuche von Menschen, sie zu erzwingen, sind Vorbeben, die von der kommenden Reife der Zeit sprechen. Die Bedingung der Revolution, das geschichtliche Ereignis, ist dann herangereift, wenn die Destruktionsentwicklung der bestehenden, alten Verhältnisse so auf alles zurückschlägt, dass das für ewig geplante Gehäuse des Systems Risse und Brüche erleidet. Die kann, wie man derzeit sieht, in vielem sich ausdrücken: Die Störung oder den Stillstand des Systems, den die Revolutionäre herzustellen versuchten, damit ein anderes Denken Raum ergreifen kann, schafft heute ein Virus. Auch das ist ein Ereignis, das alle zwingt und einen Bruch in der Normalität bewirkt. Es bewirkt nicht von sich aus etwas Gutes. Möglich ist auch das Gegenereignis, wie es 1933 von den Nazis in Macht gesetzt wurde. Es öffnet nur plötzlich eine andere Situation und verlangt von uns ein Handeln. Das ist offenkundig.

»DER BEGRIFF ›BAADER-BEFREIUNG‹ ENTSPRINGT EINER VERKÜRZTEN SICHT. ALLE, DIE SICH DARAN BETEILIGTEN, BEFREITEN SICH VON BISHER WIRKSAMEN ZWÄNGEN DER VERHÄLTNISSE UND WAGTEN SICH IN EIN SELBST HERGESTELLTES ÄUSSERES: DIE ILLEGALITÄT.«

Am 14. Mai 1970 fand die Befreiung von Andreas Baader aus seiner Gefangenschaft statt. Von denen, die wegen der Kaufhausbrandstiftung in Frankfurt am 2. April 1968 verurteilt waren, war er als Einziger wieder in Haft. Diese Befreiungsaktion gilt als historischer Gründungstag der RAF, auch wenn das Selbstbild in Symbol und Logo erst knapp ein Jahr später folgte. Der Begriff »Baader-Befreiung« entspringt aber nur einer verkürzten Sicht. Alle, die sich daran beteiligten, befreiten sich von bisher wirksamen Zwängen der Verhältnisse und wagten sich in ein selbst hergestelltes Äußeres: die Illegalität. Und es gibt ein schönes Bild dieser Befreiungsaktion: den Fenstersprung der Ulrike Meinhof. Folgt man Monika Berberich, die zum Gründungskreis der RAF gehörte, war Meinhofs Illegalisierung damals noch nicht geplant. Sie, die als Teil eines gemeinsamen Arbeitsprojektes daran beteiligt war, dass Andreas Baader in das »Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen« in Berlin ausgeführt wurde, hätte, Überraschung vortäuschend, auch sitzen bleiben können. Aber dann entschied sie sich zum Sprung durch das Fenster, um sich den anderen anzuschließen. »Springen, du musst springen«, wurde zur oft genutzten Metapher in der Kommunikation des Kollektivs RAF. Sie nennt das Bewegungsmuster jeder Revolution.

Niemand weiß, wann eine Situation eine revolutionäre Situation ist. Lieber einmal zu schnell auf sie setzen, anstatt sie zu verpassen. Nicht der revolutionäre Kampf und seine Folgen, sondern das Verpassen einer historischen Möglichkeit wäre das Trauma.

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