Soziologie als
Politik 

von Jens Kastner

Fotos: Images d’Algérie, 1957–1961 

Am 1. August wäre der französische Soziologe Pierre Bourdieu 90 Jahre alt geworden. Sein Denken hält nach wie vor zentrale Instrumente linker Gesellschaftstheorie und -kritik bereit.


3022 wörter
~13 minuten

Vielleicht hat der Soziologe Franz Schultheis seinem Kollegen und Mitstreiter Pierre Bourdieu versehentlich einen Bärendienst erwiesen. Sein 2019 als Buch erschienener »Erfahrungsbericht« über die langjährige Zusammenarbeit mit dem Franzosen trägt den Titel Unternehmen Bourdieu. Die explizite Absicht, einen intellektuellen Netzwerker und engagierten Linken zu porträtieren, der »an vielen Fronten gleichzeitig kämpfte«, wurde durch die Benennung als ökonomische Organisationseinheit (»Unternehmen«) konterkariert. Depolitisierende Fehlinterpretationen von Bourdieus Schaffen ließen nicht lange auf sich warten. So interpretierte Andreas Reckwitz in seiner Besprechung von Schultheis’ Buch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Bourdieus Netzwerkaktivitäten als Vorläufer der Exzellenzcluster und Sonderforschungsbereiche an europäischen Universitäten.

Bourdieu, der Bildungsforscher und Kritiker der »Illusion der Chancengleichheit«, als Vorkämpfer einer Ökonomisierung des Bildungssystems? Deutlicher kann ein Missverständnis, in der akademischen Welt zumindest, kaum ausfallen. Als Bourdieu 2002 überraschend an Krebs gestorben war, hatte die Frankfurter Allgemeine Zeitung noch klarer gesehen. Zwei Tage nach seinem Tod berichtete die Zeitung, der »sozialkritische, weit links stehende Wissenschaftler« habe mit seinen politischen Stellungnahmen immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Bourdieu wird in dem kurzen Nachruf zugleich als »der bedeutendste Soziologe Frankreichs« und als »Vordenker der Globalisierungskritiker« bezeichnet. Mit beidem lag die Frankfurter Allgemeine Zeitung ebenso richtig wie mit der politischen Verortung »weit links stehend«.

Die hier zu sehenden Fotografien wurden von Pierre Bourdieu in den Jahren 1957 bis 1961 in Algerien aufgenommen. Sie zeigen die Widersprüche und Brüche in dieser Gesellschaft von Entwurzelten. Das Fotoarchiv Pierre Bourdieus Images d’Algérie, 1957–1961 wird seit 2001 in enger Zusammenarbeit mit der 
Fondation Bourdieu kuratorisch und editorisch von Camera Austria (Graz) betreut.

Jetzt weiterlesen? Das sind Ihre Optionen.

AKTUELLES
HEFT KAUFEN

Jetzt kaufen
Erhalten Sie um nur 8,50 Euro Ihren Online-Zugang zu allen Beiträgen dieser Ausgabe. Das gedruckte Heft erreicht Sie demnächst per Post.

JETZT
ABONNIEREN

Zu den abos
Mit einem Abo lesen Sie das TAGEBUCH online unlimitiert. Jede gedruckte Ausgabe erhalten Sie, je nach Modell, bequem per Post. Ab 29 Euro.
1

    Warenkorb

    Spenden €10 - Monatlich
    1 X 10 / Monat = 10 / Monat