Vielleicht hat der Soziologe Franz Schultheis seinem Kollegen und Mitstreiter Pierre Bourdieu versehentlich einen Bärendienst erwiesen. Sein 2019 als Buch erschienener »Erfahrungsbericht« über die langjährige Zusammenarbeit mit dem Franzosen trägt den Titel Unternehmen Bourdieu. Die explizite Absicht, einen intellektuellen Netzwerker und engagierten Linken zu porträtieren, der »an vielen Fronten gleichzeitig kämpfte«, wurde durch die Benennung als ökonomische Organisationseinheit (»Unternehmen«) konterkariert. Depolitisierende Fehlinterpretationen von Bourdieus Schaffen ließen nicht lange auf sich warten. So interpretierte Andreas Reckwitz in seiner Besprechung von Schultheis’ Buch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Bourdieus Netzwerkaktivitäten als Vorläufer der Exzellenzcluster und Sonderforschungsbereiche an europäischen Universitäten.
Bourdieu, der Bildungsforscher und Kritiker der »Illusion der Chancengleichheit«, als Vorkämpfer einer Ökonomisierung des Bildungssystems? Deutlicher kann ein Missverständnis, in der akademischen Welt zumindest, kaum ausfallen. Als Bourdieu 2002 überraschend an Krebs gestorben war, hatte die Frankfurter Allgemeine Zeitung noch klarer gesehen. Zwei Tage nach seinem Tod berichtete die Zeitung, der »sozialkritische, weit links stehende Wissenschaftler« habe mit seinen politischen Stellungnahmen immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Bourdieu wird in dem kurzen Nachruf zugleich als »der bedeutendste Soziologe Frankreichs« und als »Vordenker der Globalisierungskritiker« bezeichnet. Mit beidem lag die Frankfurter Allgemeine Zeitung ebenso richtig wie mit der politischen Verortung »weit links stehend«.
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