Wien, 1965. Es ist der Abend des letzten Märztages. Eine von einem antifaschistischen Studentenkomitee organisierte Demonstration überquert den Michaelerplatz, laut polizeilicher Schätzung sind es 3.000 Menschen. Am Ende des Demonstrationszugs gehen ehemalige Widerstandskämpfer. Sie protestieren gegen die antisemitischen Äußerungen von Taras Borodajkewycz. Ganz nach dem Geschmack rechtsextremer Studenten stellte der Professor der Hochschule für Welthandel in seinen Vorlesungen wiederholt seine NS-Nostalgie offen zur Schau.
Ein atemloser 22-Jähriger kommt über den Kohlmarkt in Richtung Michaelerplatz gelaufen. Er trägt eine weiße Armschleife, das Erkennungszeichen des Ordnerdiensts der Demonstration, aber er hat den Anschluss verloren. Gleich zu Beginn des Aufmarschs ist er in einen Zwischenfall verwickelt worden: Eine halbe Stunde vorher hatte der vom Karlsplatz kommende Demozug die Oper passiert. Dort skandierten ein paar Hundert rechtsextreme Gegendemonstranten Parolen wie »Heil Boro!« und »Hoch Auschwitz!«; dann stürmten sie los und durchbrachen die Ordnerkette der Antifaschisten. Im darauf folgenden Gemenge sah der junge Aktivist in der Nähe des Hotel Sacher einen älteren Mann reglos auf dem Boden liegen. Blut rann aus seinem Mund. Nur widerwillig ließ sich der livrierte Pförtner des Sacher dazu überreden, die Rettung zu rufen. Zwei Tage darauf sollte der Mann am Boden, er hieß Ernst Kirchweger, an den Folgen eines Faustschlags des später wegen »Notwehrüberschreitung« verurteilten RFS-Studenten Gunther Kümel sterben.
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