Gespenstische Macht

von Benjamin Opratko

Editorial TAGEBUCH 2/2021

Die Künstlerin Andi Schmied fotografierte zwischen 2016 und 2020 Luxusapartments inmitten des urbanen Alltags, Wohnenklaven für Superreiche sozusagen. In diesen Enklaven erkennt die Soziologin Sharon Zukin »Vampirlandschaften« – und greift damit eine Metapher von Karl Marx auf: Ihm zufolge ist das Kapital »vampirgleich«, weil es das Lebendige aus der Arbeit saugt. Für den Kulturkritiker Mark Fisher wiederum, dessen Freitod sich jüngst zum vierten Mal jährte, ist es ein »gespenstisches Ding«. In The Weird and the Eerie nennt er das Kapital einen »metaphysischen Skandal«: Aus dem Nichts erschaffen, übe es als »eerie entity« doch mehr Einfluss auf unsere Gesellschaften aus als jede physische Größe. Die unheimliche Macht des Kapitals versteckt sich im Akkumulationsnormalbetrieb als stummer Zwang der Verhältnisse. Wahrlich monströs materialisiert sie sich erst, wenn der Normalbetrieb ausgesetzt ist. Das nennen wir Krise. 

Knapp ein Jahr nach Ausbruch der Corona-Pandemie sind wir vom Normalbetrieb noch immer weit entfernt. Die Krise hat in den kapitalistischen Zentren ein beispielloses Ausmaß angenommen. Europäische Regierungen hangeln sich von einem halbherzigen Lockdown zum nächsten, um die Infektionskurven auf ein erträgliches Maß zu drücken, ohne das Maß des Erträglichen je transparent zu bestimmen. Grundrechte werden eingeschränkt, Schulen geschlossen, neue Vorschriften verfasst. In Österreich verantwortet die Bundesregierung ein Staatsversagen, das schon jetzt tausende Tote zur Folge hatte, wie Lukas Oberndorfer in seinem Kommentar deutlich macht. Nach dem Credo der Regierung soll und darf bloß eines nicht angegriffen werden: der Anspruch des Kapitals auf seine Vermehrung. Menschen sterben, weil Arbeiterinnen und Arbeiter sich selbst und ihre Nächsten anstecken, während sie Zierkissen, Dieselmotoren, Handfeuerwaffen oder Schokoriegel herstellen. Das ist die unheimliche Macht der »gespenstischen Entität«.

Die deutschsprachige Linke beginnt nun endlich damit, eine eigenständige Position einzunehmen und Alternativen zur herrschenden Pandemiepolitik zu finden, die sich nicht dem sozialdarwinistischen Todeskult der Durchseuchung ergeben. Wichtigster Anstoß dafür ist die #ZeroCovid-Kampagne, die das Infektionsgeschehen nicht eindämmen, sondern aushungern will. Eine ihrer großen Errungenschaften ist es, die Rolle des Arbeitslebens ins Zentrum zu rücken. Kollege David Mayer diskutiert ihre Ziele, Aussichten und Probleme. Für einen anderen Ansatz steht Panagiotis Sotiris. Er präzisiert für uns seine erstmals im Frühjahr 2020 im TAGEBUCH skizzierten Überlegungen zu einer »demokratischen Biopolitik«. Sotiris’ Ausgangspunkt: Die Lockdown-Politik ist gescheitert. Sie schützt die jüngeren, gesünderen und die mit ausreichend Wohnraum ausgestatteten Angestellten am besten, während jene Teile der Arbeiterklasse, die am meisten von einer Infektion mit dem Coronavirus zu befürchten haben, den höchsten Risiken ausgesetzt sind. Sein Gegenvorschlag ist ebenso weitreichend wie provokant. Er sollte, wie die Forderungen der #ZeroCovid-Kampagne, als einer jener Pflöcke verstanden werden, die das Diskussionsfeld einer alternativen, solidarischen Pandemiepolitik abstecken.

Ein weiterer Aspekt der gespenstischen Kapitalmacht wird uns auch in postpandemischen Zeiten noch lange umtreiben, wenn die Wirtschaftskrise Erwerbsarbeitslosigkeit zur Massenerfahrung macht. Auf historischem Boden, in der Marienthal genannten ehemaligen Arbeitersiedlung im niederösterreichischen Industrieviertel, startet das Arbeitsmarktservice gerade ein einzigartiges Modellprojekt. Dabei wird allen Langzeitarbeitslosen der Gemeinde Gramatneusiedl ein Arbeitsplatz garantiert. Das Vorhaben ist beseelt vom Geist der sozialistischen Sozialwissenschafterinnen rund um Marie Jahoda und Paul F. Lazarsfeld, die 1933 ihre Studie über Die Arbeitslosen von Marienthal publizierten. Anna-Elisabeth Mayer wird das auf drei Jahre angelegte Jobgarantie-Projekt für das TAGEBUCH literarisch begleiten.

Übrigens: Für die Marienthal-Studie erhielt Marie Jahoda bis ans Ende ihrer Tage weder Honorar noch Tantiemen. Schlechte Arbeitsbedingungen sind für Wissenschafterinnen und Wissenschafter auch hierzulande kein neues Phänomen. Dass die prekäre Lage vieler Lehrender und Forschender an Österreichs Universitäten nun durch die Reform des Universitätsgesetzes noch weiter verschlechtert wird, bleibt trotzdem ein Skandal. Hier war kein Gespenst am Werk, sondern die ÖVP – und grüne Bildungspolitikerinnen, die es besser wissen müssten.

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