Betrachtungen eines Ohrs mit Sehnen

von David Mayer

Illustration: Lea Berndorfer

In Wien verweist eine Plakatkampagne auf die Folgen des Lockdown für den Kulturbetrieb. Während sie den Betroffenen wenig hilft, verrät sie viel über die Weltsicht einer Oberschicht der Kulturbranche.


954 wörter
~4 minuten

Man kam in Wien in diesem Winter kaum daran vorbei: Überall in der Stadt, insbesondere an prestigeträchtigen Affichierplätzen, fanden Passantinnen Plakate mit Slogans wie »Ohne Kultur sind unsere Ohren nur Brillenhalter« oder »Ohne Kultur sind unsere Augen nur Lichtsensoren«. Wenn auch anatomisch falsch, so doch immerhin mit einem (wohl unbeabsichtigten) doppelten Boden: »Ohne Kultur sind unsere Stimmbänder nur Sehnen«. Für die Kampagne verantwortlich ist das Unternehmen Kulturformat, ein Anbieter von Werbeflächen für Kulturveranstaltungen. Kulturformat ist eine hundertprozentige Tochter der Gewista, dem Platzhirsch für Außenwerbungen in Wien, die bekanntermaßen ein Naheverhältnis zur SPÖ Wien hat, aber straff gewinnorientiert agiert. 

Nun ist es fürwahr angebracht, auf die schwierige, zum Teil katastrophale Situation von Kunst- und Kulturschaffenden seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie aufmerksam zu machen. »Kultur«, diese vielgestaltige Sphäre menschlicher Aktivität, ist eben nicht nur Neigung und Kreation, sondern für viele Tausende auch Brot und Quartier, also einkommensgenerierende berufliche Existenz. Und diese war schon zuvor von Prekarität, geringer Planungssicherheit und zunehmender Marktdurchdringung geprägt. 

Aber aus dieser Perspektive ist die Kampagne »Ohne Kultur wäre …« nicht konzipiert. Dafür müsste sie Arbeitsbedingungen und die momentanen Einkommensausfälle der Kulturarbeiter und Kulturarbeiterinnen in den Blick rücken und Forderungen zu deren Absicherung stellen. Genauso wie sie eine Diskussion darüber anstoßen müsste, wie Kultur als öffentliches Gemeingut gestaltet werden kann. 

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