Ein Sittenbild der 1970er Jahre

von Martin Reiterer

451 wörter
~2 minuten
Ein Sittenbild der 1970er Jahre
Hannah Brinkmann
GEGEN MEIN GEWISSEN
avant-verlag, 2020, 232 Seiten
EUR 30,90 (AT), EUR 30,00 (DE), CHF 41,50 (CH)

Als ihre Großmutter starb, entdeckte die 14-jährige Hannah Brinkmann in deren Wohnzimmerschrank die Todesanzeige ihres Onkels, die in der FAZ erschienen war. Seine letzten Lebensdaten, die darin festgehalten sind, ließen sie nicht mehr los: »Oktober 1973 Einberufung zur Bundeswehr trotz eines laufenden Verfahrens auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Ende 1973 Depressionen durch den Zwang zum Waffendienst. Januar 1974 psychiatrische Untersuchung im Bundeswehrlazarett Hamburg-Wandsbek: Man sah keinen Grund zur Entlassung aus dem Wehrdienst. 20. Januar 1974 Tod durch Starkstrom.«

In ihrem Comicdebüt Gegen mein Gewissen erzählt die 1990 geborene Zeichnerin die Geschichte ihres Onkels Hermann Brinkmann. Geboren 1954 in der kleinen Gemeinde Lindern, verweigerte der überzeugte Pazifist Anfang der 1970er Jahre den Wehrdienst aus Gewissensgründen. Er wurde von einer gnadenlosen Behörde in den Suizid getrieben. Die Autorin hat ein einfühlsames Porträt ihres Onkels und seiner Familie gezeichnet. Der Comic ist jedoch auch eine luzide Darstellung einer heuchlerischen Nachkriegspolitik und ihrer fatalen Folgen. Voller subtiler Beobachtungen, die sich ästhetisch oftmals aus der Bildebene erschließen, entwirft er schließlich ein lebendiges Sittenbild der 1970er Jahre.

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wurde 1949 in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen. »Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.« (Art. 4 Abs. 3 GG) Anschaulich zeigt der Comic, wie dieses Grundrecht durch jene Kommission ausgehebelt werden konnte, die – bis zu ihrer Abschaffung im Jahr 1984 – die Aufgabe hatte, das Gewissen der Kriegsdienstverweigerer zu überprüfen. Die Beweislast lag aufseiten der Verweigerer. Doch wie beweist man sein Gewissen? Wenn es keine Möglichkeit gibt, sich auf eine gemeinsame Definition zu berufen? Man kann Brinkmanns Comic als brillante Lektüre für den Ethikunterricht empfehlen. Er durchleuchtet die demokratiepolitischen Komponenten, unter denen die Beziehung von Individuum und Staat ins Kippen gerät. Spätestens dann, wenn die Gewissensprüfung aufgrund eines zynischen Missverhältnisses von Ohnmacht und Übermacht zu einer Art Inquisitionsverfahren verkommt.

Die individuelle Geschichte Hermanns und seiner bürgerlich geprägten Familie ist eingebettet in die Geschichte der 1970er Jahre, die die Autorin in wechselnden Zeichenstilen ihres Farbcomics zum Leben erweckt. In karikaturesken Posen, die an George Grosz erinnern, zeichnet Brinkmann etwa die politischen Akteure der Adenauer-Zeit. Zwischendurch werden die klaren Linien durch herangezoomte Details konterkariert. Gleichsam mit der Lupe legt die Autorin ihr Augenmerk auf eine historische Naht, die das Ineinandergreifen zweier unterschiedlicher Generationen sichtbar macht. In eindrucksstarken Traumbildern wiederum, die ihre Panelformen verwandeln oder auflösen, stellt die Zeichnerin die Gedanken- und Gefühlswelt Hermanns dar, der sich zunehmend in seiner Ohnmacht wiederfindet. »Hermanns Geschichte«, stellt die Autorin am Ende fest, »ist zu meiner eigenen geworden.« Ihr Comic wird so zur Hommage an Hermanns kämpferische Familie und an viele andere, die wie er für ihr Gewissen eingetreten sind.

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