Flug der Pappelsamen
von Erich Hackl
Eine ergreifende Familiengeschichte, souverän erzählt: Ljuba Arnautović’ Roman »Junischnee«.
Mit Ljuba Arnautović ist der österreichischen Literatur, ganz unverhofft, eine couragierte Erzählerin zugewachsen. Ihr Mut erweist sich schon daran, dass sie gegen die Konvention verstößt, einen realen Fall als Materialsammlung für allerlei Fiktionen zu nutzen. Was sie in ihrem Roman Junischnee erzählt, ist wirklich geschehen, und es kommt ihr nicht in den Sinn, sich aus kompositorischen Gründen oder im Irrglauben, dass dokumentarisch gesättigte Literatur mit dem Makel mangelnder Vorstellungskraft behaftet sei, über die recherchierten Fakten hinwegzusetzen. Allenfalls riskiert sie es, biografische Leerstellen behutsam zu schließen.
Arnautović erfindet also nicht, sie findet ihre Stoffe, und zwar in der außergewöhnlichen Geschichte ihrer zuerst sozialdemokratisch, dann kommunistisch gesinnten Familie, für die der Aufstand der österreichischen Arbeiter im Februar 1934 und seine blutige Niederschlagung den großen Wendepunkt darstellen. Alles, was danach kommt, ist vom Kampf ums Überleben bestimmt, und an den körperlichen wie seelischen Wunden, die Flucht, Exil, Lagerhaft, Trennungsschmerz und Entbehrung ihnen geschlagen haben, leiden die Verwandten auch dann noch, als ihr Leben endlich in ruhigeren Bahnen verläuft. Es spricht für die hohe Kunst dieser weit herumgekommenen, polyglotten Schriftstellerin, dass ihr Roman sich nicht in der Darstellung von so viel Leid und Vergeblichkeit erschöpft, sondern im Bedürfnis nach Liebe, Zärtlichkeit, Solidarität den Vorschein einer besseren Welt erahnen lässt. Einer Welt also, in der das kleine, persönliche Glück nicht mit der kollektiven Sehnsucht nach Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit kollidiert.
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