Nicht-weiß ist nicht gleich nicht-weiß

von Andrea Heinz

541 wörter
~3 minuten
Nicht-weiß ist nicht gleich nicht-weiß
Bernardine Evaristo
MÄDCHEN, FRAU ETC.
Aus dem Englischen von Tanja Handels Tropen, 2021, 512 Seiten
EUR 25,70 (AT), EUR 25,00 (DE), CHF 35,90 (CH)

Bernardine Evaristos Mädchen, Frau etc. scheint das Buch zur Stunde zu sein: In Zeiten, in denen Bewegungen wie Black Lives Matter weltweit erstarken, heftig über Alltagsrassismus debattiert wird, Feministinnen immer lauter (wenn auch zunehmend konsumkapitalistisch überformt) ihre Rechte einfordern und der Brexit die Gemüter bewegt, erzählt es vom Leben schwarzer britischer Frauen und ihrer Familien. Besser hätte man einen Erfolgsroman kaum konstruieren können und tatsächlich wurde Evaristo, 1959 in London geboren, 2019 für Girl, Woman, Other als erste schwarze Schriftstellerin mit dem Booker-Preis ausgezeichnet. 

Evaristo erzählt von schwarzen britischen Frauen aus unterschiedlichsten Schichten und diverser Herkünfte – nicht-weiß ist ja nicht gleich nicht-weiß, kann arabische Frauen ebenso meinen wie Afroamerikanerinnen, Äthiopierinnen oder Nigerianerinnen. Zusammengehalten werden diese sehr unterschiedlichen Leben und Menschen durch die Figur der Amma, einer lesbischen Dramatikerin, deren Stück Die letzte Amazone von Dahomey am National Theatre Premiere hat. In zwölf kurzen Kapiteln erzählt Evaristo von Ammas Leben sowie von denen der Frauen, die in irgendeiner Weise mit ihr in Verbindung stehen. Ihre nervig-präpotente 19-jährige Tochter Yazz etwa oder Shirley, beste Freundin aus Schulzeiten, eine biedere Lehrerin, die versucht, ihrem deprimierenden Arbeitsalltag an einer heruntergesparten Problemschule Sinn zu verleihen, indem sie vielversprechende Jugendliche fördert. So wie Carole – die wird mit 13 gruppenvergewaltigt, stürzt ab, rafft sich wieder auf, studiert in Harvard, macht eine steile Karriere als Investmentbankerin und verliebt sich schlussendlich glücklich.

Damit wären wir bei der großen Schwäche dieses Romans: So lebensprall, üppig und bunt dieser Überblick über das ist, was ein Leben als schwarze Frau (oder als »genderfreie« und »pansexuelle« Person, auch das wird in einem etwas bemüht hineingepressten, didaktischen Kapitel ergänzt) alles beinhalten kann, so sehr zwingt diese Form Evaristo, an der Oberfläche zu bleiben. Wie es etwa für Carole möglich war, das Trauma der Vergewaltigung, über das sie nie mit jemandem gesprochen hat, zu überwinden, wie sie es geschafft hat, eine offenbar auch sexuell erfüllende Beziehung zu führen: Man erfährt es nicht. 

Diese Oberflächlichkeit, den Eindruck, dass die Geschichten nur über das Leben der Figuren hinwegwischen, ein paar Triggerwörter (ein Lynchmord hier, eine Fehlgeburt dort) fallen lassen und dann zur nächsten weitergehen, wird noch verstärkt durch die flapsige, betont lockere Sprache und die Sätze, die keinen Punkt am Ende haben, dafür durch kontraintuitive Absätze rhythmisiert sind. Auf Dauer wirkt die jargonhafte, auf Teufel komm raus authentische Sprache aufgesetzt. Es mag teilweise an der Übersetzung von Tanja Handels liegen; für die Vorliebe, die Evaristo, Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University, für Adjektive zu hegen scheint, kann sie aber nichts. Selbst die Männer, die auf der Premierenfeier am Ende des Romans die Häppchen hereintragen, bekommen noch ein paar: »knackige junge Männer, die wie eine rattenscharfe Revuegruppe hereinmarschieren«. 

Nach dem Premierenfeier-Kapitel, in dem es wirklich witzig und präzise wird und man kurz das Gefühl hat, den Figuren endlich näherzukommen, endet der Roman mit einem eindeutig überkonstruierten Plot-Twist. Ein bisschen weniger Effekt, ein wenig mehr Tiefe, und es wäre vielleicht tatsächlich das Buch der Stunde geworden.

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