Der andere 11. September

von David Mayer

Österreichisches Tagebuch, Nr. 11, November 1973


539 wörter
~3 minuten

Gleich nach den Anschlägen in New York und Washington 2001 wurde klar, dass 9/11 fortan als allgemeine Chiffre fungieren würde. Gegen diese Universalisierung regte sich bald Widerstand – aus dem globalen Süden, aus der Linken: Es gebe einen anderen 11. September, der ähnlich folgenreich war, nämlich jenen des Jahres 1973 in Chile. Auf den Putsch der extrem rechts ausgerichteten Militärs um Augusto Pinochet gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende reagierte auch Franz Marek im Wiener Tagebuch. Seine Analyse mag überraschen: Marek galt als ein maßgeblicher Ideengeber des entstehenden Eurokommunismus und dieser zog aus der chilenischen Erfahrung bekanntlich den Schluss, dass eine Provokation der reaktionären Gegenseite in Zukunft zu vermeiden sei, mit dem anderen Lager, wie es in Italien hieß, ein »historischer Kompromiss« eingegangen werden müsse. Marek argumentierte 1973 dagegen anders: Militär, besitzende Klassen und Christdemokraten in Chile konnten gar nicht mit Kompromissen befriedet werden, weil sie jede Maßnahme von Allende wie auch die Mobilisierung der Bevölkerung als das verstanden, was sie waren: ein revolutionärer Prozess.

Franz Marek

Anatomie einer ungewöhnlichen Revolution

»Der Ausdruck ›ungewöhnliche Revolution‹ stammt von Fidel Castro […]. […] Dieser ›revolutionäre Prozeß‹ […] vollzog sich unter Führung eines Präsidenten, der sich streng an die bestehenden Gesetze hielt und dem eine feindliche Parlamentsmehrheit die Beschlußfassung neuer Gesetze unmöglich machte.

[…]

Kaum zwei Wochen vor dem Putsch überraschte uns Etienne Fajon, einer der führenden Männer der KP Frankreichs, mit der Feststellung, daß man sich auf die strikte Loyalität der chilenischen Armee […] verlassen könne, und – im gleichen Atemzug – mit einer Kritik an der Unidad Popular, wohl an die Adresse der [in der Unidad Poputlar dominanten, Anm.] Sozialistischen Partei Chiles gerichtet. Es habe linksradikale Irrtümer gegeben, unüberlegte Theorien, die den Akzent auf die Zerstörung der alten Strukturen legten, ohne Rücksicht auf Produktion und Produktivität[.]

[…]

Man kann die letzte Etappe der chilenischen Entwicklung kaum verstehen, wenn man sie nicht im Rahmen eines ungleichen Wettlaufs zwischen jenen Volksinitiativen, die man als Keimformen einer Doppelherrschaft klassifizieren könnte, und der wachsenden Doppelohnmacht von Präsident und Regierung gegenüber einer feindlichen Parlamentsmehrheit und einer feindlichen Exekutive – Bürokratie, Justiz, immer mehr auch der Armee – begreift, verschärft durch den Umstand, daß die Massenmedien eindeutig eine Schlagseite zugunsten der Rechten aufwiesen […].

[…]

Allende diskutierte mit den Vertretern dieser Organe [der Doppelherrschaft, Anm.], auch dann, wenn er ihre Initiativen nicht billigte, er verstand ihre Haltung und ihr Ungestüm. Lateinamerika, so hatte er einst in einem Gespräch mit [Régis, Anm.] Debray gesagt, ist ein eruptiver Vulkan, die Völker können einfach nicht weiterhin sterben anstatt zu leben.

[…]

›Sind Marxismus und Demokratie vereinbar?‹ lautete der Titel, den der Leitartikler der liberalen ›Zeit‹ seinem Kommentar zu den blutigen Ereignissen in Chile gab. Eine andere Fragestellung wäre doch zweifelsohne näher gelegen: Sind Profit und demokratische Spielregeln, Bourgeoisie und bürgerliche Demokratie auf die Dauer vereinbar? Die Ereignisse in Chile rechtfertigen die Schlußfolgerung, daß – im allgemeinen – die Bourgeoisie sich nur so lange an verbriefte demokratische Formen hält, solange sie sie sich leisten kann und nur mit einer Spannweite, zu der sie die inneren und äußeren Machtverhältnisse zwingen. Nicht länger und nicht mehr.«

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