»Gewalt entwickelt sich aus Schwäche«

von David Mayer

Klaus Theweleit ist Kulturtheoretiker und Autor, dieser Tage nimmt er den Theodor-W.-Adorno-Preis entgegen. Ein Gespräch über männliche Gewalt, glückende Beziehungen und Jimi Hendrix.


3931 wörter
~16 minuten

David Mayer | Herr Theweleit, am 9. September erhalten Sie den diesjährigen Adorno-Preis der Stadt Frankfurt. Das ist nicht ohne Pikanterie: Sie haben immer wieder die »adornitische Rechthaberei« beklagt. Werden Sie sich in Ihrer Preisrede mit Adorno versöhnen?

Klaus Theweleit | Natürlich werde ich in meiner Rede auch über mein Verhältnis zu Adorno sprechen – das ist, wie Sie gesagt haben, ein ziemlich kritisches. Was mir an Adorno schon früh auffiel: Er hat unfehlbar immer recht. Selten nimmt er sich zurück, sein Rechthaben hat bisweilen etwas Massives und Überfallartiges. Ihm zugutezuhalten ist: Er steht dazu, dass er Behauptungen aufstellt, ohne alles in diesem komischen Universitäts-Wissenschaftssinn belegen zu müssen, an solche Dinge hält er sich nicht. Genauso wenig wie an dieses pseudologische Vorgehen systematischer Philosophen, weil er meint: Systematik in diesem Bereich stützt immer falsche Totalität. Deshalb gehört es gleichsam zum Programm, gebrochen zu reden, in Sprüngen zu reden, überfallartig zu reden – es darf nur nicht blöd sein. Das hat bei Adorno ja recht gut funktioniert. Ich habe dennoch schon in den Männerphantasien 1977/78 angemerkt, dass ich nicht in diesem Frankfurter-Schule-Ton schreiben wollte. 

DM | Fanden Sie bei Adorno auch inhaltliche Bezugspunkte?

KT | Ja, vom Denken Adornos ist natürlich einiges in die Männerphantasien und spätere Arbeiten eingeflossen – unter anderem hatte ich seine Studien zur autoritären Persönlichkeit vor Augen, die er mit anderen zusammen noch in New York verfasst hatte. Zugleich ging ich darüber hinaus, indem ich die Arbeiten der Kinder-Psychoanalyse sowie der Frauen in der psychoanalytischen Diskussion mit hineingenommen habe. Ich denke an Autorinnen wie Anna Freud, Melanie Klein oder Margaret Mahler, die ja nicht nur über Freud hinauswiesen, sondern auch weit über das, was Adorno von der Psychoanalyse im Kopf hatte. Geschrieben wurde das Buch zudem von 1972 bis 1977, da hatte ich die 68er-Zeit als SDS-Aktivist hinter mir und ein paar Jahre Arbeit als Radiojournalist, und ich wollte in einer Sprache schreiben, in der die allseitige »Belebung« von 1968 einen Platz hatte – dieses Mitbeachten von allem Möglichen, ob das nun Musik, Kino, theoretisches Denken oder die eigene Beziehung war. Alles, nur keine abgehobene Theoriesprache.

Zugleich richtete sich das gegen den neuen, von den K-Gruppen der Maoisten in dieser Zeit angestimmten Ton. Die wiederholten bestimmte theoretische Kernkomplexe auf systematische Weise immer wieder, beteten sie nach. Es sollte ein Buch sowohl gegen diese als auch gegen die von Adorno verwendete Sprache sein – eine Art doppelte Abgrenzungsübung. Für mein Denken aber war Adorno absolut wichtig.

DM | Die Männerphantasien wurden 2019 bei Matthes & Seitz neu aufgelegt und, für einen Klassiker der kritischen Literatur bemerkenswert, noch einmal intensiv rezipiert. Wie erklären Sie sich dieses muntere zweite beziehungsweise dritte Leben der beiden Bände? Vor allem, wenn man an ihre zentrale Figur denkt, den soldatischen Mann, der von Kindesbeinen an zugerichtet wurde und der, wie Sie schrieben, sich auf einem »Körperfragment« errichtet. Dieser Typus von Mann scheint heute doch weit weniger präsent als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert oder etwa noch in den 1970er Jahren.

KT | Dieses muntere zweite oder dritte Leben, wie Sie es nennen, ist wohl darauf zurückzuführen, dass jene, die sich mit rechter Gewalt beschäftigt haben, über die Jahre kontinuierlich auf mich zugekommen sind – immer mit der Frage nach der Aktualität der Männerphantasien beziehungsweise den Kontinuitäten zwischen den in dem Buch analysierten Freikorpssoldaten und den verschiedenen Erscheinungsformen rechter, männlicher Gewalttäter. Das verstärkte sich 2014 mit dem Aufkommen der zur Schau gestellten Enthauptungen von »Ungläubigen« durch IS-Kämpfer. Und in der Tat, ob nun rechtsradikale Attentäter, neue Rechte, IS-Kämpfer, Einzeltäter – immer ließen sich deutliche Gemeinsamkeiten ausmachen. 

Zugleich habe ich mich in mehreren Texten seit den 1990er Jahren wiederholt mit verschiedenen zeitgenössischen Formen männlicher, im weitesten Sinne rechter Gewalt beschäftigt und dabei den in den 1970er Jahren auf Deutschland und die Freikorpssoldaten beschränkten Blick in mehrere Richtungen ausgeweitet – zum Beispiel auf Pasolini und seine Verarbeitung des italienischen Faschismus in Die 120 Tage von Sodom. In meinem Buch Das Lachen der Täter aus dem Jahr 2015 ging es um eine Reihe von Gewalttaten in den Jahren davor, nicht zuletzt um den Massenmord von Anders Breivik, der sich diesen Juli zum zehnten Mal jährte. All die im Buch analysierten Morde wurden von Männern mit mehr oder weniger rechtem ideologischen Hintergrund verübt. Ein besonderes Phänomen stellt dabei die Entwicklung in den USA dar: die Einzeltäterschaft, die mit dem ungenauen Begriff »Amok« beschriebenen Taten, Schulen und Bildungseinrichtungen als Tatorte, nicht zuletzt die Resonanz von Incel-Ideologien und ähnlichen Einstellungen.

DM | Zugleich haben Sie bei vielen Gelegenheiten betont, dass der ideologische Hintergrund bei diesen Morden nicht das Tatmotiv ist.

KT | Ja, das ist tatsächlich aus meiner Sicht ganz streng in den Mittelpunkt zu stellen: die Absicht zu töten. Diese Täter wollen morden, und möglichst nicht nur Einzelne, sondern im größeren Umfang. Warum? Es sind Männer, die nicht nur unter enormem inneren Druck stehen, sondern das Gefühl haben, dass der Boden unter ihren Füßen wegbricht, dass etwas sie verschlingt. Und dieses Verschlingende bringen sie, wie schon die Freikorpssoldaten in den 1920er Jahren, mit Weiblichkeit in Verbindung, mit dem weiblichen Körper. 

Nach der ganzen Aufklärung seit den 1960er und 1970er Jahren über sexuelle Dinge hatte ich gedacht, die Rechten hätten davon etwas aufgenommen. Und damit etwas, wenn man so will, von der Lächerlichkeit ihrer Position erkannt – dass es die Weiblichkeit sein soll, die sie am Leben hindert, die sie schwindlig werden und die Welt als Brei empfinden lässt, in den sie reinhauen oder den sie ordnen müssen. Ich hatte zunächst gedacht, das hätte sich abgebaut. Und in dem Punkt habe ich mich getäuscht – bei einer bestimmten Sorte Männlichkeit hat sich das nicht nur nicht abgebaut, sondern sogar verstärkt. So fordern manche der Incel-Schreiber ja, dass Frauen insgesamt wegmüssen, ein Attentäter forderte 2014 in seinem »Manifest«, Frauen in Konzentrationslager zu sperren. Viele Incels meinen auch, Frauen würden nicht mehr gebraucht, Fortpflanzung wäre angesichts des Fortschritts in der Reproduktionsmedizin auch ohne sie möglich.

Dieses Eliminatorische gegenüber Frauen sehe ich bei den Incels als neue Qualität, die mich überrascht hat. Insgesamt findet man bei ihnen großteils altbekannte Haltungen. Aus diesem Grund bedurften die Männerphantasien bei ihrer Wiederauflage, zumindest aus meiner Sicht, auch keiner spezifischen Korrektur. Insbesondere von psychoanalytischer Seite her – ich meine da, wie gesagt, vor allem die von Margaret Mahler und anderen in der Kinder-Psychoanalyse gemachten Beobachtungen – hat dies alles noch seine Berechtigung und an Aktualität, muss ich leider sagen, nichts verloren. 

DM | Argumentativ fungiert in den Männerphantasien der Fragmentkörper ja als Schlüssel zum Verständnis dieser Freikorpssoldaten. Der Fragmentkörper wiederum ist eine Folge von Zurichtungen in der Kindheit, vor allem des allgegenwärtigen Verprügelns. Jetzt ließe sich sagen, dass Prügel als Erziehungsmaßnahme in vielen Gesellschaften, wenn nicht völlig verschwunden, so doch stark zurückgedrängt und sozial geächtet sind. Wie passt dieses Argument vom zugerichteten Fragmentkörper noch zu zeitgenössischen männlichen Gewalttätern?

KT | Die Herstellung des Fragmentkörpers funktioniert heute viel weniger über physische Gewaltübergriffe. Das ändert nichts an seiner unheilvollen Präsenz. Man braucht sich nur die Reden heutiger Rechter anzusehen. Es gibt immer irgendeine Macht von außen, die ihnen ihr Leben nimmt. Ob das Frauen sind, Juden, Muslime, Schwarze – es ist immer etwas da, was eine Übermacht ausübt, die zum Ziel hat, sie zu unterdrücken, zu vernichten. Und dieses Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, führt in ihren Köpfen – das habe ich damals mit allen Details für die Freikorpssoldaten beschrieben – zu einer Art Schwindel. Sodass sie die Welt um sich herum immer als Brei, als Schlamm, als Schleim oder als Matsch beschreiben, der sie einsaugt, der sie zunichtemachen will. Die komisch-amorphe Halbflüssigkeit der Welt – die, wie gesagt, mit dem Weiblichen assoziiert wird –, diese Beschreibungen finden Sie bei heutigen Rechten auch. Jetzt kann man sich fragen, woher kommen diese Empfindungen aus kinder-psychoanalytischer Sicht? Es gibt auch ohne Prügel viele Arten einen Kleinkinderkörper so zu verunsichern, dass Menschen diese Empfindungen entwickeln. Da reicht schon ein Gefühl der Ablehnung. Diese Körper werden von innen negativ besetzt, mit etwas, das sie verfolgt. Später können sie keinen richtigen Bezug zu ihrer Außengrenze herstellen, zu dem, was Margaret Mahler die »Körperperipherie« genannt hat, also das Wissen darüber, wo man aufhört, wo die Außenwelt anfängt – denn die Libido richtet sich nach außen, das gut behandelte Baby besetzt die Körpergrenzen lustvoll, lässt sich gerne streicheln und halten. Jenen, die dabei eine Störung erlitten haben, fehlt es an dieser Sicherheit: zu wissen, wo die Grenze ist, wo die Außenwelt anfängt. Dadurch dringt alles, was sie irgendwie stören oder aufregen könnte, in sie ein – es fehlt die Abwehrmöglichkeit. Das Argument ist also: Die spätere Gewalt entwickelt sich aus einer Position der Schwäche, weil die Außenwelt nicht richtig verarbeitet, nicht richtig abgewehrt werden kann. Wenn alles in einen eindringt, einen überfällt und überschwemmt, kommt man nie in die Lage jener Freiheit, die mit einer unabhängigen und eigenständigen Person verbunden ist. 

DM | Und dem helfen die Betroffenen mit gleichfalls über den Körper vermittelten Stützen ab – der von Ihnen so bezeichnete Körperpanzer. Was sind heute Praktiken der stützenden Panzerung?

KT | Das war früher das Militär. Das wurde auch vollbewusst so beschrieben, als »zweite Geburt« der Person, und die Soldaten, die das durchstanden, fühlten sich tatsächlich neugeboren. Das kann man heute machen über Sport, über verschiedene Sorten Training und andere Arten der Selbstbehandlung, über Muckibuden, um sich ein muskuläres Körper-Ich anzutrainieren. Der emblematische Fall wäre Anders Breivik, der in den letzten drei Jahren vor seinem Attentat immer in die Muckibude gerannt ist und sich gewogen hat und am Tag vor dem Attentat schreibt: »Ich habe fünf Kilo zugelegt« – an Muskelmasse.

DM | Und dann explodiert irgendwann dieses muskuläre Körper-Ich aus einem beliebigen störenden Anlass heraus …?

KT | Nein, eben nicht. Breivik weiß das schon drei Jahre vorher, er will morden. Er zieht aufs Land, besorgt sich nach und nach die Sprengstoffe, er besorgt sich die Waffen, die Autos – es ist alles genau geplant. Das trifft auf fast alle Attentate der letzten Jahre zu. Für sie ist der Begriff »Amok« völlig unangemessen, wie der US-amerikanische Psychologe Peter Langman in seinem Buch über amerikanische College-Morde gezeigt hat. Alle sind genau vorbereitet, alle wissen genau, wen sie umbringen wollen, sie besorgen sich die Waffen, sie studieren die Tatorte, betreiben Lektüre. Der Attentäter von München hatte sogar das Buch von Langman auf seinem Nachttisch liegen und für seine Tat den Jahrestag von Breiviks Anschlag auf Utøya gewählt. Es sind geplante Taten von äußerst gestörten Rechten, die ihr Leben nur mehr bewältigen können, indem sie andere umbringen.

DM | Wie reagieren Sie auf den Vorwurf – der Ihnen seit Erscheinen von Männerphantasien gewiss öfter angetragen wurde –, dass Sie mit der Betonung von Tatmotiven, die gleichsam hinter ideologischen Begründungen liegen, einer Depolitisierung von Taten Vorschub leisten, die man doch auch als politische Angriffe verstehen sollte?

KT | Auch wenn Neonazis Hitler zitieren und Obdachlose oder Arbeitslose wegen »Sozialschmarotzerei« attackieren – sieht man genauer hin, merkt man: Das ist nicht ihr Antrieb dabei. Ihr Antrieb ist das Tötenwollen. Diese Leute können sich selber nicht aushalten. Sie können nicht denken, ohne dass irgendjemand, der sie stört, wegmuss. Dieser eliminatorische Ansatz ist das Entscheidende. Das sind bei den Nazis die Juden, bis zu einem gewissen Grad auch die Russen und andere. Dieser Typus – ich habe das einmal anhand von Eichmann im Detail herausgearbeitet – hört nicht auf so zu denken, bevor nicht alle weg sind. Alle, nicht einzelne. Dieses Gefühl der Nichtbedrohtheit, das sie dabei suchen, lässt sich aber nicht herstellen. Der Täter von Hanau etwa sagt, dass alle »Farbigen« weggehören. Er fängt in Nordafrika an, geht über Indien und andere Regionen, um schließlich auch in Deutschland die Hälfte der Menschen als »Nicht-Germanen« einzustufen. Alle anderen müssen weg. Wer aus welchem ideologischen Grund weg soll, ist austauschbar, der Wunsch und das Körpergefühl sind: Es muss etwas Störendes weg aus der Welt, der Staat kümmert sich nicht darum, ich muss es selber machen.

DM | Antilinke, liberale Antikommunisten, aber auch Autoren wie Gerd Koenen würden sagen: Da hat der Theweleit recht – aber für die Geschichte der Linken, in der es ja auch Gewalt nicht zu knapp gab, gilt das Gleiche. Was würden Sie solchen Positionen antworten?

KT | Ja, ich würde sagen, da gilt für viele links konnotierte Gewalterfahrungen das Gleiche. Der stalinistische Terror – der ja vor nicht allzu langer Zeit von Eugen Ruge in Metropol aus der Sicht westlicher kommunistischer Migranten in der Sowjetunion noch einmal eindringlich beschrieben worden ist – teilt beispielsweise viele der beschriebenen Züge: Da müssen ganze Gruppen von Leuten, die als Gefahr für den Staat gesehen werden, einfach weg. Auch die Wellen von Terror und Gewalt im maoistischen China oder die Ereignisse in Kambodscha ab 1975 gehören dazu. Und trotz der verschiedenen Hintergründe, trotz der Notwendigkeit, die jeweiligen Fälle genau zu untersuchen, und trotz der Schwierigkeit, auch im Nachhinein, zu unterscheiden, wo der Punkt ist, an dem der Einzelne entscheidet, zu töten – es gibt da etwas, das bei diesen Morden universal ist.

Klaus Theweleit, geboren 1942, lebt als Kulturtheoretiker und Autor in Freiburg im Breisgau. Mit den 1977/78 veröffentlichten Männerphantasien trug er nicht nur wesentlich zur Debatte über die Wurzeln des Faschismus bei, sondern fungierte auch als ein Begründer der kritischen Männerforschung. Diesen September nimmt er den Theodor-W.-Adorno-Preis 2021 entgegen, den vor ihm unter anderen Leo Löwenthal, Zygmunt Bauman, Alexander Kluge und Judith Butler erhalten haben. (Fotos: Jens Gyarmaty / Visum / picturedesk.com)

DM | Zugleich trat bei Ihrer Beschäftigung mit den Freikorps recht deutlich hervor, dass sich diese als Konterrevolutionäre betrachteten, die ihre Legitimität aus der als Bedrohung empfundenen Revolution von 1918 und deren physisch-gewaltvoller Umwälzung zogen. Und tatsächlich: Revolutionen sind nun einmal handfest. Was unterscheidet die Gewaltneigung der Freikorpssoldaten von den Handlungen der Revolutionäre?

KT | Bei Freikorpssoldaten kann man zwei Ebenen unterscheiden. Einmal eine politische Argumentation: Die Revolution von 1918 ist illegitim, genauso wie der Sturz der Monarchie. Zugleich wollen sie die Monarchie nicht wiederhaben, weil sie diese für die Niederlage verantwortlich machen. Als Anhänger meist jüngerer Offiziere wünschen sie sich eine Art nationale Gegenrevolution zu 1918. Natürlich übersehen sie, dass die Freikorpsverbände gegen die linkeren Teile der Revolution, also jene, die die Räterepublik wollten, ins Feld geschickt wurden – und zwar von führenden Sozialdemokraten. Später, nach 1933, sagen sie dann: Der Faschismus ist genau das, was wir schon 1918 gewollt hatten, wir waren die ersten Soldaten des Dritten Reiches. 

All das kann man nachvollziehen in ihrer politischen Argumentation. Das spielt aber in ihren Texten, soweit ich sie finden und untersuchen konnte, nur eine wirklich untergeordnete Rolle. Wenn in den biografischen Aufzeichnungen eines Soldaten eine Rede eines Kommandeurs über Rosa Luxemburg wiedergegeben wird, in der dieser vom »Teufelsweib« spricht, »das eine ganze Nation zu verschlingen in der Lage ist«, sekundiert von Vorwürfen wie »Nutte«, »Jüdin«, »Sittenlose«, »Polin« etc., dann hat das mit politischer Argumentation überhaupt nichts mehr zu tun. Man merkt, genau da sitzen die Affekte dieser Typen, da kommen ihre Ängste wie ihr Hass her. Die rühren nicht aus dem Gedanken »Die haben eine Revolution gemacht« oder »Die haben das Gesetz gebrochen« oder »Die wollen die Unternehmer beseitigen«. Nein, sie schreiben in ihren Texten: »Da kam der Schleim der Republik auf uns zugekrochen«, »Der Brei stand uns schon bis zu Unterlippe«. Früh wurde mir klar: Entscheidend sind die Affekte dieser Texte, die Gefühle, aus denen Mordlust spricht, keine politische Argumentation.

DM | Sie haben vorhin Incels erwähnt. Hunderte Millionen erwachsene Menschen auf diesem Planeten leben ohne Sex, genauer, ohne in den Genuss von Sex mit einem anderen Menschen zu kommen. Ein Teil davon erlebt dies als leidvollen Verzicht. Das ist heute wohl nicht anders als in der Vergangenheit. Neu scheint indes, dass sich dabei wiederum ein Teil davon, ausschließlich Männer, als Gruppe findet und ein Programm der Schuldzuweisung und der Rache formuliert – gegenüber Frauen. Die Frage wäre aber: Ist dies wirklich derart neu?

KT | Zunächst einmal sollte man in Erinnerung rufen: Es gibt ja einen guten Teil der Sexlosen, die gar nicht darunter leiden, sondern sagen, das entspricht ihnen. Und man kann seine Sexualität – bei einem erweiterten Begriff von Sexualität – durch alle möglichen Praktiken leben, vom Bearbeiten eines Gartens bis zu Film, Literatur, Kunst, über das Zusammensein mit Freundinnen bis hin zu Drogenkonsum, all das hat sexuelle Seiten. Zweitens: Diese Incel-Leute sagen ja nicht, dass sie unter allen Umständen sexlos sind, sondern dass es keine Frauen gibt, die aus ihrer Sicht gut genug für ihre Ansprüche sind. Sie haben ja einen ganzen Katalog von Vorstellungen gegenüber Frauen, angefangen bei Gehorsam über Bedienen und wie sie sich anderen gegenüber zu verhalten haben – bis hin zu einem ganzen körperlichen Programm, vom Aussehen bis zur Ernährung. Wenn es so eine Frau gäbe, die würden sie dann nehmen. Weil es diese Frau aber nicht gibt, weil alle Frauen verrottet sind und gegen diese Prinzipien arbeiten, deswegen sollen sie weg. Das hat historisch betrachtet in manchem schon neue Züge, schreibt zugleich in vielem die erwähnte Angst fort, von der Weiblichkeit verschlungen zu werden.

DM | Gibt es unter den Incels nicht gleichzeitig einen selbstmitleidigen Ton, der sagt: Ich würde alles tun für eine Frau, aber es nimmt mich keine, weil ich nicht gut genug für sie bin, und das kränkt mich? Während früher ein Deckel für jeden Topf gefunden wurde, können die Frauen heute entscheiden. Und ich bin ein Topf, für den sich kein Deckel interessiert. Das ist eine Schmach, die ich nicht ertragen kann.

KT | Ich weiß nicht, ob die Incels das so sagen. Vielmehr drehen sie das um, sie sagen: Dieser »Deckel«, die, die mich nicht wollen, sind verdorben, zerstören mein Leben, müssen weg. Dann leidet man nicht mehr unter einem Deckelproblem, sondern tut sich zusammen, mit dem dazugehörenden Gemeinschaftsgefühl und dem Ziel: Die Deckel müssen zertrümmert werden. Es ist der Versuch, ihr Leiden umzudrehen und durch Gewalt abzuschaffen. Ein allgemeiner Zug aller körperlich leidenden Rechten und auch der körperlich Leidenden von links: Das eigene Leid in Gewalt umwandeln. 

DM | Gibt es Abhilfe?

KT | Die einzige Möglichkeit, dieser Gewaltneigung entgegenzuwirken, sind Beziehungen, die wechselseitige Unterstützung und Hilfe ermöglichen. In der Kindheit können da – wenn sie von Gleichheit geprägt sind – Geschwisterbeziehungen fundamental sein. Das gilt im Übrigen auch für einen Ausgleich zu allen anderen Zumutungen von Hierarchie, Arbeitsleben und technifiziertem gesellschaftlichen Leben. Im besten Fall entstehen daraus Liebesverhältnisse. Das war in meiner Generation stark an Sexualität gebunden, an die Vorstellung, dass über freie Sexualität ein Weg zu politisch-gesellschaftlicher Veränderung eröffnet wird. Das wird heute von vielen Linken wieder angezweifelt. Ohne auf die Diskussion eingehen zu wollen, was an solchen Zweifeln berechtigt ist oder nicht, fest steht, dass solche Liebesbeziehungen, die, wie gesagt, als Antidot zu mannigfachen Gewaltzumutungen fundamental sind, nicht notwendigerweise an eine gemeinsame Sexualität gebunden sein müssen. 

Letztlich glaube ich an die Idee der Verwandlung durch Beziehungen und Liebesverhältnisse. Und zwar auch als Körperverwandlung. Die biophysiologische Dimension solcher Beziehungen, die Körpermetamorphosen, die nach einer längeren Zeit vorgehen, werden unterschätzt. Das geht langsam, wirkt aber, wie auf diesem Gebiet Versierte versichern, physiologisch-strukturell, geht bis auf die Ebene der Körperzellen. Nach zwei, drei Jahren Liebesverhältnis oder auch zwei, drei Jahren Leben mit Hendrix’ Musik habe ich einen veränderten Körper.

DM | Jimi Hendrix’ Musik ist so mächtig?

KT | Dieses Gefühl der Körperverwandlung habe ich so direkt erstmals bei Jimi Hendrix erlebt. Zuerst habe ich diese Musik, wie viele andere, als brutal empfunden, nach einer Weile aber bemerkt: Was Hendrix mit der Gitarre macht, ist das Gegenteil von brutal, er lockt Dinge aus dem Körper hervor, deren Existenz man dann erst richtig bemerkt. So bin ich persönlich dann vom Dixieland Jazz beim Free Jazz und Musikern wie Fred Frith gelandet, bis heute spiele ich selber gern in dieser Art. Das sind Körpermetamorphosen, die auch dazu führen, dass man es nicht mehr aushält mit bestimmten Leuten zu sprechen, ihr Denken und Reden, das geht dann nicht mehr.

DM | In Ihrem jüngeren Pocahontas-Projekt – mittlerweile sind alle vier Bände erschienen – geht es unter anderem um die enge Verquickung des Anrechts auf Sex als behauptetes männliches Recht gegenüber Frauen mit historischen Kolonisationsprozessen seit der Antike, also mit der Landnahme sowie der Eroberung und Unterwerfung anderer. 

KT | Diesen Fragen bin ich vor allem im zweiten Band der Pocahontas-Tetralogie Buch der Königstöchter nachgegangen. Die Figur der Medea hat mich hier besonders interessiert: Die Königstocher, die sich verliebt beziehungsweise unter dem amorpfeilenden Druck der Götter zwangsverliebt und zu den Kolonisatoren überläuft. Eine Geschichte, die der heute bekannteren von Malinche und dem spanischen Konquistador Hernán Cortes ähnelt. Auch angestoßen durch die Arbeit eines Doktoranden habe ich dann den Blick von Medea auf die Verhältnisse zwischen griechischen Göttern und menschlichen Frauen allgemein ausgeweitet. Was man an diesen zwei Dutzend Geschichten ablesen kann: Es handelt sich um erzählerische Überformungen einer durchaus gewaltvollen Kolonisierungsbewegung in diese westasiatische beziehungsweise südosteuropäische Region. Diese Gewalt- und Vergewaltigungserfahrungen wurden, erzählerisch äußerst geschickt, als Taten von Göttern beschrieben, die durch ihre Verbindung mit menschlichen Königstöchtern die griechischen Heroen und damit die griechische Kultur gleichsam zeugten. Bis heute spukt der daraus entstandene Bogen von Geschichten als »Klassik« durch die deutschen Theater.

DM | Wenn man das mit den Männerphantasien zusammenspielt: Ist der koloniale Männertypus ähnlich dem faschistischen Männertypus?

KT | Der Typus, den Homer in den Kampfszenen der Ilias beschreibt – ja, das ist ein ähnlicher Männertypus. Die Domestikation von Frauen ist in der griechischen Polis Grundlage – diese Art von »Demokratie« sieht für die Frauen keine Rechte vor. Das sind ganz klar männerdominierte Kulturen – zum Teil mit einem besonderen Platz für homosexuelle Beziehungen, zum Teil nicht. Das wurde im Antike-affinen Bildungskanon der Moderne genauso übergangen wie die Tatsache, dass ein Schüler, der in einen Gelehrtenkreis aufgenommen werden wollte, zumindest einen Sklaven getötet haben musste – bei ungleichen Waffen. Das heißt, Morderlaubnis gehörte zum Erwachsenwerden und zum Mannwerden dazu. Und wenn man sich Odysseus anschaut – das ist nur selten bemerkt worden –, dann ist der ein hervorragender Pirat. Neben Sex mit Halbgöttinnen ist es das, was er zwanzig Jahre tut. Die Idee, dass der zeitgenössische humane Geist auf dieser Art antiker griechischer Kultur basiert, ist wirklich Käse! 

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