»1977 ist der Herbst der Revolution«

von Karsten Krampitz

In seinem Buch »1977« macht Philipp Sarasin in ebendiesem Jahr den Kulminationspunkt revolutionärer Hoffnung aus. Ein Gespräch über das Ende linker Gewissheiten und Identität als Phantasma.


2152 wörter
~9 minuten

Karsten Krampitz | Der Kulturphilosoph Friedrich Schlegel sagte: »Der Historiker ist ein rückwärtsgekehrter Prophet.« Welche Prophezeiung machen Sie für das Jahr 1977? 

Philipp Sarasin | Ich weiß nicht, ob ich Schlegels Spruch zutreffend finden soll. Man muss als Historiker ja nichts prophezeien; man weiß, was geschehen ist, oder man kann versuchen, es zu rekonstruieren. Nur hat eben nicht jede Historikerin und jeder Historiker das gleiche Bild von der Vergangenheit. Ich hebe bestimmte Dinge hervor, und das wirft ein bestimmtes Licht auf das Geschehene. Was mich an den Siebzigerjahren, besonders an der zweiten Hälfte, interessiert, ist die Vorstellung, dass die modernen Gewissheiten wie Fortschritt, Zukunftsgläubigkeit und so weiter sich aufzulösen beginnen. Einiges ist ganz evident und wohlbekannt. Zum Beispiel das Einsetzen des Bewusstseins über eine planetare Umweltkrise, ausgelöst vom Bericht des Club of Rome von 1972 mit dem seither sprichwörtlichen Titel Die Grenzen des Wachstums: Hier wurde zum ersten Mal ein computergestütztes »Weltmodell« entworfen, das den Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation innerhalb von hundert Jahren voraussagte, sofern das Wirtschaftswachstum nicht gebremst würde. Ich glaube, das ist fundamental, weil die Moderne immer davon ausging, die Natur als eine unendliche Ressource zu behandeln. Auch bei Marx, Engels oder Lenin ist dieser Gedanke zentral: Die Natur ist die ausbeutbare Ressource, um die Gesellschaft weiterzubringen. An eben diese Grenze stößt man in den Siebzigerjahren – was nicht heißt, dass die Ausbeutung der Natur nicht weiterging. Doch die Klimakrise signalisiert diese Grenze nun in einer dramatischen Weise. 

KK | Das ist aber nur ein Aspekt der Krise der Moderne.

PS | Ein weiterer ist zum Beispiel die langsame Erosion der Vorstellung, man lebe entweder in einer homogenen Mittelstandsgesellschaft oder, so auf der Linken, in einer nach Klassen gegliederten Gesellschaft, die aber in beiden Fällen über Massenmedien integriert und in einem als homogen gedachten Nationalstaat organisiert wird. Mit dem Soziologen Andreas Reckwitz spreche ich hier vom »Allgemeinen«, das als Diskursform und Organisationsprinzip die modernen Gesellschaften prägt. 

Ab den Siebzigerjahren verstärken sich jedoch die Tendenzen zur Singularisierung, das heißt zur Vereinzelung des Individuums. Das kann man gleichzeitig bei den Theoretikern und Politikerinnen des Neoliberalismus beobachten, die sich in diesem Jahrzehnt durchzusetzen beginnen, wie auch im Zuge der Hinwendung der, man muss sagen, ehemaligen Linken zu den kleinen Verhältnissen, zur Innerlichkeit, zu den eigenen Gefühlen – eine Entwicklung bis hin zur Esoterik in den sogenannten New-Age-Bewegungen. Mit dieser »Reise zu sich selbst«, wie ich das nenne, ist eine zunehmende Wissenschaftsskepsis verbunden, nicht zuletzt formuliert in Paul Feyerabends Buch Wider den Methodenzwang von 1975, in dem er die Formel »Anything goes« prägte. Etwas verkürzt gesagt: Wenn »alles geht«, das heißt, wenn jeder Mythos, wie Feyerabend sagt, genauso gut als Welterklärung taugen kann wie wissenschaftliche Erkenntnisse, ja noch mehr, wenn das »Gefühl« und esoterische Weltbilder überhandnehmen, glaubt man nicht mehr an die gemeinsamen, die buchstäblich allgemeinen Wahrheiten, die von einer weltweiten Scientific Community erzeugt werden. Das ist eine heute bekanntlich unübersehbare Tendenz, die man in ihrer Entstehung schon in den Siebzigerjahren erkennen kann. 

KK | Sie verbinden mit dieser Beobachtung ein politisches Phänomen: Identitätspolitik.

Ja und nein, oder sagen wir: Es gibt Parallelen, die ich nicht ganz zufällig finde. Die linke Identitätspolitik, wie sie erstmals im April 1977 vom Combahee River Collective in Boston formuliert wurde, versucht, die politische Arbeit und den politischen Widerstand von schwarzen lesbischen Frauen auf ihrer, wie sie sagen, »Identität« zu begründen, die zum Beispiel auch eine sexuelle ist. Sie erheben mit diesem Verweis auf ein ganz »Eigenes«, auch »Inneres«, das verletzt werden kann, den Anspruch auf Anerkennung, auf Anteilnahme – aber natürlich auch auf Differenz, auf Distanz, etwa schon zu schwarzen Männern, zu weißen Frauen sowieso. Das heißt, der Anspruch auf Identität gerät zumindest in eine gewisse, ja merkliche Spannung zur Solidarität. Ich würde sogar sagen: Identität ist ein Phantasma. Es ist nie klar, was nun dieser angebliche Kern des »Identischen« sein soll. Feststellbar ist aber: Die linke Identitätspolitik, wie sie hier erkennbar wird, versucht nicht, Identität zu ethnisieren – und das ganz im Gegensatz zur gleichzeitig aufkommenden, »kulturalistisch« gefassten Identitätspolitik der Neuen Rechten. Doch auch wenn dieser Unterschied wichtig ist: Das Problem ist letztlich, dass Identitäten nicht verhandelbar, nicht vermittelbar sind, dass sie als ein Letztes erscheinen, mit dem man ins politische Feld zieht. Interessen können natürlich auch aufeinanderstoßen, ja aufeinanderknallen – aber sie sind dennoch verhandelbar, zwischen ihnen sind immer Kompromisse möglich. Im Fall von Identitäten ist das per definitionem ausgeschlossen. Und die Frage, die sich daran anschließt, ist, wie man eine Gesellschaft denken kann, in der Ansprüche auf die Wahrung von Identität mit dem Bezug auf ein gemeinsames Allgemeines zusammengehen. Ich sage nicht, dass das nicht möglich wäre, aber der Begriff der Identität macht’s nicht gerade einfacher. 

KK | Bemerkenswert an Ihrer Darstellung war für mich die Gleichzeitigkeit des Abschieds von der Revolution als Kernziel linker Bewegung und der Beginn der Identitätspolitik. Lassen Sie uns über das Ende der Utopien reden. 1977 scheint stark von einem Erfahrungshorizont geprägt, wonach Mitte der Siebzigerjahre der Grundton der »Niederlage« vorherrschend war – die Niederlage von 1968 als versuchte und gescheiterte (Welt-)Revolution. Werden die verschiedenen links aufgeladenen Aufschwungsmomente der Zeit da nicht unterschätzt? Ich denke etwa, um einmal nur in Europa zu bleiben, an die Ereignisse in Portugal, Spanien oder auch Italien.

PS | Also, ich schreibe ja über den Eurokommunismus in einem Kapitel mit dem Titel »Die Krise des Marxismus«. Und das ist nicht meine Diagnose gewesen, sondern die der Zeitgenossen, auch in Bezug auf die RAF – die Spontis im Magazin Pflasterstrand, also die damalige extreme, aber eben »spontaneistische« Linke, sagen nach »Mogadischu«, ich paraphrasiere: »Schluss jetzt, ohne uns! So geht’s nicht mehr.« Joschka Fischer sagt: »Stopp! Legt die Waffen weg.« 

Sicher, da kommt dann noch Nicaragua, etwas nachholend. Aber der Glaube an die sozialistische Revolution, die sich mit einer historischen Gewissheit vollziehen wird, dieser Glaube an die Geschichte, die mit einer bestimmten Notwendigkeit ablaufen wird, die sich auf ein bestimmtes Ziel hinbewegen wird, dieser Glaube zerbricht. 

KK | Und der Ostblock?

PS | Auch der Realsozialismus gerät in den 1970er Jahren in die Krise. Die Sowjetunion kann sich noch eine Weile lang dank den Erlösen aus dem sibirischen Erdöl retten. Aber eigentlich ist die Sache gelaufen, weil die Wirtschaft des »Realsozialismus« technologisch nicht mehr mitkommt und überbürokratisiert ist. Rudolf Bahro, der DDR-Kritiker, der 1977 verhaftet und später ausgebürgert wird, erkennt das sehr klar. Bezeichnenderweise will er zu Hegel zurück, er will, Marx revidierend, den Menschen wieder »von den Füßen auf den Kopf stellen«. Auch dies eine linke Gewissheit – das Basis-Überbau-Modell –, die sich in dieser Zeit aufzulösen beginnt.

KK | War es nicht ganz anders? Nie wieder ist der Kapitalismus in der Welt so schwach, ist linke Hoffnung so groß gewesen wie in den Siebzigern! Der weltweite Protest gegen den Vietnamkrieg hatte Millionen junger Menschen auf die Straße gebracht und für eine sozialistische Utopie begeistert. 

PS | Das sind, trotz augenscheinlicher Überschneidungen, wohl doch zwei verschiedene Dinge: Protest gegen den Vietnamkrieg und sozialistische Utopie. Das Entsetzen über den Krieg hat viele Menschen ergriffen, die Zahl jener, die sich für eine sozialistische Utopie begeisterten, war letztlich deutlich kleiner. Doch wie auch immer: Sie sprechen von den Anti-Vietnam-Protesten Ende der 1960er Jahre. Saigon fällt 1975, da ist diese Hoffnung längst vorbei. 

KK | Das war das gleiche linke Lebensgefühl. Mit Salvador Allende in Chile war zum ersten Mal ein Marxist in freien Wahlen Präsident geworden!

PS | Ich weiß.

KK | Die Gewerkschaften in den Industrieländern standen am Zenit ihres Einflusses; die europäische Sozialdemokratie unter Willy Brandt, Bruno Kreisky, Olof Palme hatte sich deutlich nach links bewegt. Die italienische KP hatte 1976 über 34 Prozent bei den Parlamentswahlen erreicht; die französischen Kommunisten standen an der Schwelle zum Eintritt in eine von Sozialisten geführte Regierung.

PS | Das ist alles richtig. Aber Sie wissen doch, wie die Geschichte ausgegangen ist.

KK | Die damalige Aufbruchsstimmung wird in Ihrem Buch nicht eingefangen.

PS | Die Aufbruchsstimmung war schon vorbei. Die war 1968. Der Historiker Gerd Koenen nennt die Jahre 1967 bis 1977 »das rote Jahrzehnt«. Diese Entwicklung, das Ende linker Gewissheiten, ist natürlich nicht auf ein Jahr zu fixieren. Aber der Deutsche Herbst ist eben doch ein signifikantes Ereignis und in Deutschland tatsächlich das Ende der linken Revolutionshoffnungen. Was Chile betrifft: Allende war schon gestürzt. – Und Ende der Siebzigerjahre findet im Iran die »Islamische Revolution« statt. 

KK | Was man nicht alles Revolution nennt.

PS | Sie haben völlig recht. Das war ein ganz neuer Typus von Revolution, nämlich eine rückwärtsgewandte. Die damalige »Neue« Linke hat sich jedenfalls von diesen Veränderungen nie wieder erholt. Wer träumt denn heute ernsthaft das Programm einer gewaltsamen Revolution? Niemand. Das Jahr 1977 ist für die Linke, um diese Metapher zu gebrauchen, der Herbst der Revolution. Ich rede nicht vom Ende. Aber der Herbst weist deutlich in diese Richtung. Der Herbst ist nur der Übergang.

KK | Ist es nicht denkbar, dass 1977 noch ein Zeitfenster offenstand, in dem die Linke die Verhältnisse hätte zum Tanzen bringen können?

PS | Eher nicht, auch wenn nie so viel von Revolution gesprochen wurde wie in den Jahren ’75 bis ’77 – das heißt so viel wie nie zuvor seit 1750! Und danach, nach den 1970er Jahren, bricht diese Konjunktur völlig ein, wie der Google Ngram Viewer eindrücklich zeigt. 

KK | Mit etwas Fantasie …

PS | Nehmen wir an, die großen kommunistischen Parteien in Westeuropa wären damals an die Macht gekommen. Stellen wir uns vor, die italienischen Kommunisten hätten sich an einer Regierung beteiligen können oder vielleicht sogar die Regierung gebildet, zusammen mit anderen Parteien, wie in Frankreich die Union de la gauche, die sich nicht aufgelöst hätte. Dann ist es denkbar, dass es mehr Verstaatlichungen gegeben hätte. In Frankreich ist der Anteil von Staatsunternehmen ohnehin größer; in Großbritannien war das schon immer so, zumindest seit dem Krieg, dass es sehr viel mehr Staatsunternehmen gab, mit gemischtem Erfolg allerdings. Viele dieser Unternehmen waren nicht sehr effizient, was einer der Gründe war, warum Margaret Thatcher an die Macht kam. Natürlich kann man sagen, mit starken Linksparteien an der Regierung und starken Gewerkschaften wäre ein Bändigen der sozialen Ungleichheit, die sich damals auszuweiten begann, möglich gewesen; das glaube ich schon. Im Gegensatz zu dem dann siegreichen Neoliberalismus vielleicht also eine Art »Reformmarktwirtschaft«, oder wie auch immer man das nennen will, die sehr viel sozialer funktioniert hätte, als das, was wir bis heute erleben. Okay! Aber das revolutionäre Projekt der Neuen Linken war ein deutlich anderes. Und übrigens: Die Linke hat nicht nur den damaligen »Wohlfahrtsstaat« verspottet, sie hat sich auch ziemlich getäuscht in ihren Analysen des Kapitalismus: Dieser war zwar in einer offenkundigen Krise, dabei aber nicht wirklich schwach, sondern gerade in einer Phase der Erneuerung. Von Absterben keine Spur. 

KK | Wie meinen Sie das?

PS | Die Linke hat damals immer hoffnungsvoll vom »Spätkapitalismus« gesprochen und tut das zum Teil bis heute. Allein, in den 1980er und 1990er Jahren erlebte die Welt, wie soll ich sagen, eine Art »Jungkapitalismus«, der sich durch die technologische Revolution extrem erneuert hatte. Das war die Tendenz: Der Kapitalismus ist aufgeblüht, nicht gestorben. Und China ist auf diesen Pfad eingeschwenkt. Die Folgen sind bekannt. 

KK | Beginnt 1977 das Ende der Utopie?

PS | Das Ende des Revolutionsbegriffs. Utopien gibt es weiterhin, nur andere – wenn auch, unübersehbar, nicht mehr in so üppiger Zahl wie vielleicht noch in den 1960er Jahren oder in den Büchern von Ernst Bloch. Die Alternativbewegung entwickelte ebenfalls Utopien – kleinräumigere allerdings, »wärmere« und mehr auf das Ich bezogene Utopien. Aber sie entwickelte auch durchaus zukunftsgerichtete, was insbesondere die Ökologie betrifft: dass man sorgfältiger mit der Natur umgeht, ein anderes Leben im Kleinen führt, weniger Ressourcen verbraucht und so weiter. Diese Visionen waren sicher weit nachhaltiger als die Utopien der Neuen Linken. Außerdem entwickelt die Frauenbewegung eine Utopie von der Überwindung des Patriarchats. Ich würde sogar sagen: Die Frauenbewegung wird bis heute zu jener Bewegung aus den 1970er Jahren, die am meisten Veränderung erzwang.

KK | Das Ende der Utopie von der Revolution geht in Ihrem Buch einher mit dem Beginn von »No Future!«. Dazu schreiben Sie: »Keine Band aber repräsentierte das, was Punk genannt wurde, besser als die Ramones …« Tatsächlich? Wenn auf der Bühne ein jüdischer Sänger mit Pilzkopffrisur vom Blitzkrieg Bop singt, ist das Punk?

PS | Aber ja doch. Die Ramones sind Punk. Was denn sonst?

Philipp Sarasin 
1977
Eine kurze Geschichte der Gegenwart
Suhrkamp, 2021, 502 Seiten
EUR 32,90 (AT), EUR 32,00 (DE), CHF 43,99 (CH)
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