Eine deutsche Erregung

von Berthold Molden

Illustration: Anna Gusella

In Deutschland tobt eine Kontroverse über einen »zweiten Historikerstreit«, wahlweise einen versuchten »Schlussstrich von links«. Dürfen Holocaust und Kolonialismus im Zusammenhang gedacht werden?


3061 wörter
~13 minuten

»Schauen Sie, über religiöse Dinge will ich mit Ihnen nicht diskutieren.«
Gerhard Bronner / Helmut Qualtinger, 1963

Im Mai veröffentlichte das Schweizer Onlinemagazin Geschichte der Gegenwart einen Text des australischen Historikers Dirk Moses, in dem dieser streitbar die diskursiven Normen des deutschen Holocaust-Gedenkens thematisierte. Moses schrieb von einer Reihe von Glaubenssätzen, in denen sich die ursprünglich selbstkritische Auseinandersetzung Deutschlands mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung nun versteinert habe. Dieser »Katechismus« verbinde die These der essenziellen Einzigartigkeit von Antisemitismus und Holocaust – also deren kategorische Unterschiedenheit von anderen Rassismen und Genoziden – mit der bedingungslosen Allianz zwischen Deutschland und Israel. Die rigorose Überwachung dieser Konstellation machte Moses für die öffentliche Stigmatisierung Andersdenkender verantwortlich. Das daraus entstehende Klima der Diskriminierung habe sich am deutlichsten 2019 in der Verurteilung der Israel-Boykott-Bewegung BDS durch den deutschen Bundestag geäußert. Sodann im Umgang mit wissenschaftlichen Arbeiten, die Kolonialismus und Holocaust in teilkausale Zusammenhänge stellen, darunter vor allem jene des US-Literaturwissenschafters Michael Rothberg, dessen Werk über Holocaust- und Kolonialismus-Erinnerung heuer nach elf Jahren endlich ins Deutsche übersetzt wurde, des deutschen Historikers Jürgen Zimmerer, der über deutsche Kolonialverbrechen im heutigen Namibia schreibt, sowie des kamerunischen postkolonialen Theoretikers Achille Mbembe.

Dieses neue Kapitel in der Auseinandersetzung löste in Deutschland eine Debatte aus, deren Erregungsgrad der These des Historikers zunächst einmal recht zu geben scheint. FAZ-Herausgeber Jürgen Klaube bezeichnete Moses und seine Gesinnungsgenossen als »Gleichmacher«, die mit lückenhafter Argumentation »die Singularität des Holocaust von links in Frage« stellten. Andernorts war von hassender Sprache die Rede, von einer aktivistischen Agenda. Maxim Biller schrieb in der Zeit von »Leugnung, Verharmlosung, Relativierung, Vertuschung«. Letztlich stand oft der Antisemitismusvorwurf im Raum. In der Welt war von einem »Schlussstrich von links« zu lesen, auch der israelische Holocaust-Historiker Yehuda Bauer warf Moses dies in der Berliner Zeitung vor. Letztgenanntes Argument hat sich mittlerweile verbreitet, auch in Österreich. Ende Oktober brachte es ein Studierender wörtlich in einer Lehrveranstaltung an der Universität Wien vor, als wir Moses’ Text diskutierten. 

In Österreich (obgleich bekanntlich das uneinholbare Original und nicht nur der bessere Wiedergänger Deutschlands) wurde zwar im Mai 2021 die israelische Flagge über dem Bundeskanzleramt gehisst, doch die sogenannte Katechismus-Debatte kam in der Alb- und Alpenrepublik mit Verspätung an. Nach einigen wenigen Bezugnahmen von Journalistinnen im Frühsommer schrieb im September Paul Lendvai im Standard über die »Leugnung« der Einzigartigkeit des Holocaust durch Moses und andere, auch er stellte ihre Argumente in einen antisemitischen Kontext. Im Oktober brachte dann der Falter ein Interview mit dem israelischen Soziologen Natan Sznaider. Sznaider hatte gemeinsam mit Daniel Levy einflussreiche Studien zum globalen Holocaust-Gedächtnis geschrieben und erklärte nun, Moses verfolge unter dem »Deckmäntelchen des Wissenschaftlers […] eine klare politische Agenda«: einen Angriff auf »einen der wichtigsten Legitimationshintergründe für den Staat Israel«.

Eben hier liegt der Zündstoff, der diese Auseinandersetzung so heftig gemacht hat: die Verknüpfung der Holocaust-Erinnerung mit der politischen Gegenwart Israels und der Rolle Deutschlands in diesem Zusammenhang. Denn eigentlich müsste sich Sznaider die Entgegnung gefallen lassen, dass die von ihm verlangte Verflechtung einer bestimmten historischen Analyse mit dem Schicksal Israels und aller Juden heute ebenfalls eine politische Agenda (und eben keine wissenschaftliche Analyse) darstelle. Doch Sznaider bewegt sich gar nicht auf der analytischen Ebene, sondern auf jener der Politik, und zwar sowohl der Identitäts- als auch der Staatspolitik. Im Interview warf er dem »nichtjüdischen« Moses vor, Holocaust-Überlebende in den USA als Träger »weißer Privilegien« benannt zu haben; und er lastete Moses und Michael Rothberg an, der Verunglimpfung Israels als neokoloniales Unterdrückungsprojekt Vorschub zu leisten – und somit das nationalstaatliche jüdische Kollektiv, das staatssouveräne Rettungsschiff des Judentums als (Übel-)Täter im moralischen Drama der Weltpolitik zu klassifizieren. 

Diese Argumentation ist insofern aufschlussreich, als sie die historisch-spezifische Einmaligkeit des Holocaust nicht nur zu einem kategorisch unvergleichlichen Phänomen erklärt, sondern auch die damit verbundene Opferschaft jüdischer Menschen zu deren Essenz macht – und damit de-historisiert. Sznaider räumt zwar ein, dass die israelische Politik gegenüber den Palästinensern nicht notwendigerweise gerecht sein muss – unannehmbar sei es aber, sie mit kolonialer Praxis zu vergleichen und damit in die Liste jener Staatsverbrechen einzureihen, die Elazar Barkan um die Jahrtausendwende als »Schuld der Nationen« bezeichnete und als Grundlage einer neuen internationalen Politmoral definierte.

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