»Die Polizei ist eine strukturell konservative Institution«

von Lisa Kreutzer

Fotos: Florian Reischauer

Die Soziologin Andrea Kretschmann forscht zur Rolle der Polizei in der Gesellschaft. Ein Gespräch über Protest Policing, anlasslose Kontrollen und die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Polizei.


2843 wörter
~12 minuten

Lisa Kreutzer | Beginnen wir mit der grundlegenden Frage, warum beziehungsweise ob wir die Polizei überhaupt brauchen. Die Forderung »Defund the Police«, die im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung aufkam, ist ja mittlerweile auch in Europa zu hören. Gibt es da Vorläufer?

Andrea Kretschmann | Die Diskussion um einen Polizeiabolitionismus, also die Abschaffung der Polizei, ist in der Form neu. Wobei »Defund the Police« nicht gleichbedeutend mit der »Abschaffung« der Polizei ist, denn die Forderung schließt vor allem Positionen ein, denen es zunächst um eine Umschichtung öffentlicher Mittel von der Polizei hin zu anderen staatlichen Institutionen geht, insbesondere solchen, die sozialstaatliche Maßnahmen umsetzen. Ganz ohne Vorläufer ist aber auch der Polizeiabolitionismus nicht. Mit dem Begriff des Abolitionismus werden allgemein Forderungen umschrieben, die die Aufhebung rechtlich institutionalisierter Zwangsverhältnisse und Sanktionsformen anstreben. Den Beginn machten die Gegnerinnen und Gegner der Sklaverei. Sowohl in den USA als auch in Europa entstand zuletzt in den 1970er Jahren eine strafrechtsabolitionistische Strömung, die dafür eintrat, Strafrecht und Strafvollzug graduell oder gänzlich abzuschaffen. In Europa ist diese Bewegung fast in Vergessenheit geraten, nicht nur, aber auch wegen ihres eigenen Erfolgs: Einige ihrer Impulse sind tatsächlich in Reformen eingeflossen, wie verschiedene Entkriminalisierungen, Alternativen zur Haftstrafe oder der Täter-Opfer-Ausgleich. In den USA dagegen ist der Strafrechtsabolitionismus auch heute noch präsent, allerdings im Kontext einer Gesellschaft, in der »mass incarceration« ein großes und nicht mit europäischen Verhältnissen vergleichbares Problem darstellt. Damit ist die massenhafte Inhaftierung entlang von Linien sozialer Marginalisierung gemeint, die vor allem die schwarze Bevölkerung betrifft. Mir scheint es wichtig, diese älteren Traditionen mit den jüngeren Forderungen nach »Defund the Police« zu verbinden, weil die Opposition zur Polizei so in historischer Perspektive früherer Forderungen im Feld der Kriminalpolitik erkennbar wird: Die Polizei wird dann sichtbar als eine Institution, die in ihrer heutigen Form tief in die Entwicklung von Strafrecht, Kriminalpolitik und Strafvollzug und die Kämpfe darum eingebettet ist.

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