Unfreier Sex

von Isabella Caldart

Wie politisch ist Sex? Amia Srinivasan analysiert in ihrem Essayband Das Recht auf Sex den Einfluss gesellschaftlicher Normen auf unser Begehren.

Am 23. Mai 2014 ermordete Elliot Rodger sechs Menschen in Santa Barbara, Kalifornien, bevor er sich selbst das Leben nahm. Rodger wurde somit zum weltweit bekanntesten Vertreter der Incels, jener misogynen Subkultur heterosexueller Männer, die sich selbst als involuntary celibate, also »unfreiwillig zölibatär« ansehen, aber glauben, ein Recht auf Sex zu haben. Amia Srinivasan, Philosophin und Professorin am Oxford College, setzte sich in einem 2018 in der London Review of Books veröffentlichten, viel diskutierten Essay mit dem Titel »Does anyone have the right to sex?« mit diesen Morden und Rodgers 140 Seiten umfassenden Manifest auseinander. Zusammen mit fünf weiteren Texten ist dieser Essay jetzt in ihrem Buch Das Recht auf Sex erschienen.

Eigentlich, sagt Srinivasan, habe sie sich mit dem Inhalt des Manifests beschäftigen wollen, »weil in diesem Dokument mehrere politische Pathologien zusammenlaufen und einander verstärken: Misogynie, Klassismus, Rassismus«. Doch mit den Deutungen seines Motivs für die Morde verschob sich ihr Interesse zu den »Lesarten anderer Feministinnen und ihre[n] Interpretation des Phänomens Rodger«. Die sind der Philosophin zu simpel, größtenteils attestierten sie dem Täter nämlich nur den auf der Hand liegenden Frauenhass: »Was mir an dieser Reaktion jedoch auffiel, war, dass sich offensichtlich niemand für Rodgers Behauptung interessierte, man habe ihn in Sex- und Liebesdingen sowohl aus rassistischen Gründen als auch wegen seiner Introvertiertheit und seinem Mangel [sic!] an stereotyper Männlichkeit marginalisiert.« Laut Srinivasan liegt er mit dieser Selbstdiagnose zwar daneben. Dennoch stellt sich die Frage, ob man die heteromaskulinen und rassistischen Normen der Gesellschaft in diesem Komplex ausblenden kann.

Folgt man der Philosophin, muss die Frage mit einem eindeutigen Nein beantwortet werden. In Das Recht auf Sex behandelt sie verschiedene politische Dimensionen, wenn es um unsere Sexualität geht, vor allem mit Fokus auf Machthierarchien, race und Klasse. Kann Sex überhaupt gleichberechtigt und frei sein? »Frei waren wir noch nie«, lautet Amia Srinivasans nüchternes Fazit. Begehren, so argumentiert sie, ist nicht angeboren beziehungsweise präpolitisch, sondern durchwegs von der Gesellschaft geprägt. Entsprechend darf auch die Wirkung, die Rassismus darauf hat, nicht unterschätzt werden.

Der Bogen, den sie schlägt, ist dabei umfassend. In ihrem ersten Essay »Die Verschwörung gegen Männer« analysiert sie mehrere Aspekte von #MeToo. Ausgehend von der bekannten Tatsache, dass es so gut wie nie falsche Vergewaltigungsvorwürfe gibt, sondern die meisten Vergewaltigungen vielmehr nicht zur Anzeige gebracht werden, bringt Srinivasan eine neue Facette in die Diskussion. Die Anschuldigungen, die sich als falsch erweisen, wer stellt sie? Nicht die Frauen, so die Autorin. Sie werden überwiegend von Männern gemacht – und zwar von der weißen Polizei oder dem Staatsanwalt gegen nicht-weiße Männer. Die Angst, die vor allem weiße Männer der Mittel- und Oberschicht vor unbegründeten Vergewaltigungsvorwürfen äußern, ist also nicht berechtigt und verweist auf eine tieferliegende Angst, »dass die Strafverfolgungsbehörden einen reichen Weißen womöglich genauso behandeln könnten, wie sie routinemäßig Men of Color behandeln. […] Für den weißen Mann der Mittel- oder Oberschicht hingegen ist der unwahre Vergewaltigungsvorwurf ein Sonderfall, bei dem er sich jener Ungerechtigkeit des Karzeralstaats ausgeliefert fühlt, der sich arme Nicht-Weiße – Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen – routinemäßig ausgesetzt sehen.«

Doch nicht nur Männer, die den Karzeralstaat – also einen Staat, der massiv auf Sanktionen durch Polizei, Strafgerichte und Gefängnisse setzt – fürchten, nimmt Srinivasan ins Visier. Auch Feministinnen, die die Komponente race ignorieren, kritisiert sie, konkret den Imperativ, der vom durch weiße Frauen geprägten Mainstream-Feminismus aufgestellt wird: »Believe women« – glaubt Frauen, wenn es um sexualisierte Gewalt geht. Das mag erstmal einleuchtend klingen. Doch wer Frauen automatisch glaubt, übersieht vor allem in den USA jene lange Geschichte, in denen Schwarze aus rassistischen Gründen von Weißen der Vergewaltigung bezichtig wurden. Das bekannteste Beispiel ist wohl Emmett Till, ein 14-jähriger Junge, der im Jahr 1955 von weißen Männern gelyncht wurde; erst im Jahr 2007 gab das mutmaßliche Opfer Carolyn Bryant zu, gelogen zu haben. Entsprechend werfe die Forderung für viele Frauen mehr Fragen auf, als sie beantworte. »Wem sollen wir glauben – der weißen Frau, die sagt, sie sei vergewaltigt worden, oder der Woman of Color, die darauf beharrt, ihrem Sohn werde etwas angehängt. Carolyn Bryant oder Mamie Till?«

Zurück zu Elliot Rodger. Was er und andere Incels nicht erkennen, ist, dass der Feminismus nicht nur nicht ihr »Feind« ist, »sondern die maßgeblichste Kraft im Widerstand gegen das System, das ihm – dem kleinen unbeholfenen, unmännlichen Jungen multiethnischer Herkunft – das Gefühl der Unzulänglichkeit erst eingeimpft hat«. So waren es laut seinem Manifest auch weniger die Mädchen denn die Jungs, die ihn aufgrund seiner »Unmännlichkeit« verspotteten.

Aber auch bei Rodger als Asian-American ist neben dem Einfluss des Patriarchats nicht ausblendbar, dass race in seinem Leben eine Rolle gespielt hat. Und hier wird es kompliziert: »Rodgers Diagnose, man habe ihm aufgrund rassistischer und heteromaskuliner Normen die Begehrenswürdigkeit abgesprochen, [muss] nicht prinzipiell falsch sein«, sagt Srinivasan. »Rassismus und Heteronormativität reichen bis in die Sphäre von Liebe und Sex hinein, ja, gerade in dieser intimen Sphäre schlagen sie, geschützt von der Logik ›persönlicher Präferenzen‹, die tiefsten Wurzeln.« Rassismus wird also durchaus eine Rolle darin gespielt haben, dass die »Stacys«, also »scharfe Blondinen«, sich nicht für Rodger interessierten, sondern eher für die »Chads«, die »Alpha-Männer«.

Incels wie Elliot Rodger seien allerdings nicht unbedingt interessiert an Liebe, Nähe oder auch nur an Sex, sagt Srinivasan mit Bezug auf die Feministin Rebecca Solnit, sondern an dem sozialen Status, den sie sich durch »Stacys« erhoffen. Frauen, die weniger konventionellen und/oder weißen Normen entsprechen, sind für sie nicht interessant. Es sind die »hochrangigen« Frauen, von denen sie ein Recht auf Sex fordern. Der rassistische Faktor ist in diesem Fall entsprechend doppelter Natur: Rodger selbst sah sich statushöher als etwa schwarze Männer. Dass wiederum die »Stacys« potenziell weniger Interesse an einem nichtweißen Mann haben, ist gesellschaftlich geprägt.

Wie soll also diese komplexe Situation aufgelöst werden? In ihren Essays analysiert Amia Srinivasan verschiedene Hierarchien, die unsere Sexualität und unser Begehren maßgeblich beeinflussen. Denn Sex sei, wie sie wieder mit Verweis auf Rebecca Solnit sagt, eben kein Sandwich (»Butterbrot« in der deutschen Übersetzung). Wer sein Sandwich nicht teilen wolle, müsse das auch nicht tun, meint Solnit. Zu simpel, antwortet Srinivasan: Angenommen, das Kind ist »dunkelhäutig, dick, geistig oder körperlich eingeschränkt« – könne es nicht sein, dass es aus genau diesen Gründen ausgeschlossen wird?

Sex muss also nicht nur individuell, sondern immer auch strukturell gedacht werden. »Es stellt sich somit die Frage, wie mit dieser Ambivalenz umzugehen ist: Auf der einen Seite steht das Eingeständnis, dass niemand verpflichtet ist, jemand anders zu begehren, niemand das Recht hat, begehrt zu werden, auf der anderen die Erkenntnis, dass wer begehrt wird und wer nicht, politisch motiviert ist und häufig von allgemeinen Herrschafts- und Ausgrenzungsstrukturen bestimmt wird.« Eine Lösung für diese Ambivalenz bietet auch Das Recht auf Sex nicht. Aber Amia Srinivasan stellt die richtigen Fragen, um im Diskurs um Sex neue Dimensionen aufzuzeigen.

Amia Srinivasan
Das Recht auf Sex
Feminismus im 21. Jahrhundert
Aus dem Englischen von Claudia Arlinghaus und Anne Emmert
Klett-Cotta, 2022, 320 Seiten
EUR 24,70 (AT), EUR 24,00 (DE), CHF 33,90 (CH)
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