In Lauerstellung

von Dieter Reinisch

Illustration: Aefleda Clackson

Nach den Wahlen zum nordirischen Parlament im Mai könnte die republikanische Sinn Féin bald Regierungschefs in Belfast und Dublin stellen. Ihre vorrangigen Ziele sind trotzdem nur schwer zu erreichen.


992 wörter
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Seit dem 5. Mai ist Sinn Féin (SF) offiziell stimmenstärkste Partei Irlands. Bei den Wahlen zum nordirischen Regionalparlament Stormont erreichte der politische Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) 29 Prozent (1,1 Prozentpunkte mehr als bei der letzten Wahl 2017). Auch in der Republik Irland ist SF im Höhenflug. Landete sie im Februar 2020 schon als stimmenstärkste Partei bei 24,5 Prozent der Erststimmen, liegt sie der jüngsten Umfrage, die am 8. Mai im Sunday Independent veröffentlicht wurde, bei 34 Prozent – mehr als zehn Prozentpunkte vor der zweitplatzierten rechtskonservativen Fine Gael.

Der Aufstieg von SF in Irland ist mit den Langzeitfolgen der Wirtschaftskrise von 2008 zu erklären. Damals kam die Republik als erstes Land unter den EU-Rettungsschirm. Eine breite soziale Bewegung gegen Sozialabbau entwickelte sich jedoch erst im Rahmen der Proteste gegen die Einführung einer Wasserabgabe – die Massenproteste führten schließlich zum Aus für die Sondersteuer. Ein Faktor für die Etablierung der Bewegung war außerdem, dass die Bevölkerung es satthatte, dass Irland trotz einer verheerenden sozialen Lage weiterhin ein Steuerparadies für internationale Konzerne geblieben war. 

Labour und Grüne haben in diesen Jahren immer wieder konservative Regierungen unterstützt und sich dadurch als soziale Protestparteien aus dem Spiel genommen. SF konnte sich dagegen als linke Alternative gegen die EU-Austeritätspolitik positionieren. Heute wird sie von den irischen Wählerinnen zunehmend als jene Partei angesehen, die eine glaubwürdige Alternative anbietet und die besonders gegen Wohnungsnot und hohe Immobilienpreise vorgeht. Das liegt nicht zuletzt am Abgeordneten Eoin Ó Broin, der dieses Thema unermüdlich bearbeitet und ein staatliches Wohnungsprogramm nach skandinavischem Modell fordert, auch die Wiener Gemeindebauten sieht er als Vorbild.

Zugleich nahm SF in den letzten Jahren sozialdemokratische Forderungen in ihr Programm auf. Dieser Umstand trug dazu bei, jenen Parteien Stimmen abzunehmen, die in Dublin und anderen urbanen Regionen ähnliche Themen besetzt haben: Labour, Trotzkisten und unabhängigen Linken. 

So war es auch am 5. Mai bei der Regionalwahl in Nordirland. Dort mussten andere nationalistische und linke Parteien empfindliche Stimmenverluste hinnehmen. Die Social Democratic Labour Party (SDLP) verlor stark, die trotzkistische People Before Profit (PBP) ebenso, sie konnte sich nur dank der SF-Transfers in Westbelfast mit einem Sitz im Parlament halten. Die Grünen wiederum stellen im Stormont künftig keinen Abgeordneten mehr. Ein ähnliches Schicksal dürfte die linken Parteien bei den nächsten Wahlen zum Parlament im Süden der Insel erwarten. Wie in Nordirland gibt es auch in der Republik ein Stimmentransfersystem. Jeder Stimmzettel kann mit Nummern gewichtet werden, zunächst werden Erststimmen ausgezählt. Kommt ein Kandidat oder eine Kandidatin über einen bestimmten Schwellenwert, werden die verbliebenen Zweitstimmen aufgeteilt. Dieses Verfahren geht so lange weiter, bis alle Sitze in einem Wahlkreis vergeben sind.

SF-Wählerinnen vergeben ihre Transfers tendenziell an linke Kandidaten (siehe dazu den Beitrag »Historischer Linksruck« in TAGEBUCH NO 2/2020). Nur dadurch konnten sich trotz Erststimmenverlusten einige trotzkistische und sozialistische Kandidatinnen im Parlament halten. Stellt SF, was zu erwarten ist, bei den nächsten Wahlen im Süden aber mehr Kandidaten in den einzelnen Wahlkreisen auf, verbleiben die Transfers innerhalb der Partei. Das Dilemma: SF dürfte, auf Kosten anderer linker Kräfte, so zwar weiter zulegen, am Ende aber ohne möglichen Koalitionspartner für eine linke Regierung dastehen. Das Ziel einer sozialen Transformation der irischen Gesellschaft bleibt damit in weiter Ferne. Ein realistischeres Szenario ist da schon eine Koalition mit der liberal-konservativen Fianna Fáil als Juniorpartner.

Unmittelbar nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses vom Sonntag verkündete SF-Präsidentin Mary Lou McDonald übrigens, »Vorbereitungen für eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung zu beginnen«. Eine solche soll laut McDonald innerhalb der nächsten zehn Jahre stattfinden. 

Tatsächlich fehlt es SF jedoch an einer Handhabe für einen derartigen Plan. Im Karfreitagsabkommen, das den Nordirlandkonflikt beenden und die Nachkriegsordnung skizzieren sollte, heißt es, dass einzig der britische Staatssekretär für Nordirlandfragen ein Referendum ansetzen kann, und zwar dann, »wenn es ihm zu irgendeinem Zeitpunkt wahrscheinlich erscheint, dass eine Mehrheit der Stimmberechtigten den Wunsch äußern würde, Nordirland nicht mehr als Teil des Vereinigten Königreichs zu belassen und Teil eines vereinten Irlands zu werden«. Klare Regeln und Mechanismen dafür sind allerdings ebenso ungeklärt wie der Modus einer möglichen Abstimmung: Genügt ein Votum nur im Norden? Falls nicht: Sollte es eine gemeinsame oder zwei getrennte Abstimmungen in beiden Teilen der Insel geben? Und überhaupt: Sollte nicht auch in Großbritannien über die Union mit Nordirland abgestimmt werden?

Viel wahrscheinlicher erscheint derzeit ein im Einvernehmen mit Großbritannien arrangiertes Referendum. Dieser Fall könnte dann eintreten, wenn die britische Labour Party aus den kommenden Unterhauswahlen als »schwacher« Sieger hervorgeht und auf einen Juniorpartner angewiesen ist. So könnten SF und die Scottish National Party (SNP) die Duldung einer Labour-Regierung von Unabhängigkeitsreferenden in ihren jeweiligen Landesteilen abhängig machen. SF müsste sich dafür freilich vom »Abstentionismus« verabschieden: Bis heute lehnen ihre Abgeordneten die Legitimität des britischen Unterhauses ab und nehmen daher ihre Sitze nicht ein. SF dürfte jedoch nur bereit sein, dieses republikanische Prinzip aufzugeben, wenn es im Gegenzug die Zusicherung über ein Referendum gibt.

Auch wenn Sinn Féin heute in beiden Teilen der grünen Insel stark wie nie ist, ihren beiden wichtigsten Zielen – Wiedervereinigung und soziale Transformation – ist die Partei damit nicht unbedingt näher gekommen. In Panik verfällt man deshalb aber noch lange nicht. Im Norden dürfte der demografische Wandel dafür sorgen, dass sich SF langfristig an der Spitze behaupten kann. Bei der Volkszählung Ende dieses Jahres wird erstmals eine Mehrheit »kultureller Katholiken« (cultural Catholics) in Nordirland erwartet, und spätestens ab 2030 wird es eine solche in jeder Alterskohorte geben. In der Republik wiederum ist SF die Partei der Jugend: Vor allem die unter 34-Jährigen wählen sie überproportional häufig. Die Partei kann warten. 

»Sinn Féin konnte sich als linke Alternative gegen die Austeritätspolitik der europäischen union positionieren.«
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